Weihnachten rückt immer näher. Nur noch 4 Tage! Habt ihr zu Hause schon einen Weihnachtsbaum aufgestellt?
Heute öffnen wir Türchen Nr. 20 an unseren Adventskalender. Dieses stammt von Lunell. Viel Freude damit!
......................
Quo Vadis?
„Weihnachten: ein besonderer Tag der Völlerei, Trunksucht, Gefühlsduselei, Annahme von Geschenken, öffentlichem Stumpfsinn und häuslichem Protzen gewidmet.“
– Ambrose Gwinnett Bierce (1842 - 1914), genannt Bitter Pierce, US-amerikanischer Journalist und Satiriker
Das Fest der Liebe, das Fest des Schenkens, der Freude, der allmächtigen, zuckergusstropfenden Herrlichkeit, garniert mit einem pummeligen Engel in einem unschuldig weißen Spitzenensemble.
Ist das nicht einfach wunderbar?
Der junge Mann verzog angewidert das Gesicht und nutzte den kläglichen Rest seiner Selbstbeherrschung, der nicht durch das bunte Treiben in den Läden zerfressen worden war, um den Blick von den Scheußlichkeiten abzuwenden, die vor ihm auf dem Tresen ausgebreitet waren und sein charmantes Lächeln wieder in Form zu bringen.
„Eine Schachtel Marlboro, bitte.“
„Gerne“, der etwas ältere, bebrillte Kioskbesitzer nickte ihm freundlich zu. „Und fröhliche Weihnachten.“
„Ihnen auch“, strahlte er fast übertrieben gut gelaunt zurück.
Fröhlich pfeifend trat er den Heimweg an, wobei er sich behutsam seine erste Zigarette an diesem Abend anzündete – es war höchste Zeit, seine Nerven zu beruhigen.
Normalerweise war Amuro Touru niemand, der sich schnell aus der Ruhe bringen ließ, allerdings war Weihnachten stets ein Fest gewesen, das ihn im höchsten Maße abgestoßen hatte. Es war einfach ein Fest, das in seiner Sinnlosigkeit, die in dekadenter Albernheit es darzustellen nicht müde wurde, unübertroffen war. Ein Fest der Doppelmoral, der vergoldeten Messer im Rücken der Mitbürger, während man ihnen mit wohlwollendem Lachen den Glühwein nachschenkt.
Also warum sollte ich es anders machen? Warum darf ich nicht lächeln wie sie? Nur weil sie sich selbst besser belügen können?
Letztendlich ist das Schöne an diesem Schaulaufen doch, dass wir alle daran teilhaben können. Ob groß ob klein, recken sie die Hälse, um einen Blick auf die prächtig behangenen Tannen, die funkelnden Lichter und all die weiß eingepackte Friedlichkeit zu erhaschen.
Es ist eine magische Zeit, in der alle Probleme vergessen scheinen. Man schluckt den Groll über den trinkenden Ehemann oder die keifende Nachbarin einfach hinunter, denn es ist eine Zeit des Besinnens und eine Zeit des Verzeihens, die einzige Gelegenheit, die Schulden, die man das Jahr über angehäuft hat zu bezahlen, indem man den Armen ein Stöckchen hinwirft, mit dem sie spielen können. Womöglich beschäftigt es sie ja bis zum nächsten Jahr, wenn das Spiel von vorne beginnt.
„Entschuldigung, haben Sie etwas Kleingeld übrig?“
Amuro machte sich nicht einmal die Mühe, sich umzudrehen.
Lasst uns einfach ein bisschen Glitzer draufstreuen, dann sieht die Welt gleich viel besser aus.
So ganz schien das Konzept der Nächstenliebe bei dem jungen Mann, dessen Hautfarbe jedem Schwarzafrikaner Konkurrenz gemacht hätte, noch nicht angekommen zu sein. Den Obdachlosen – er hatte natürlich auch einen Namen, doch Namen waren etwas für Menschen, und diese Eigenschaft hatte er nach seinem Empfinden lange abgelegt – vermochte diese Tatsache nicht zu verwundern. Er erkannte einen Lügner, wenn er ihn sah. Hatte genug Lügner getroffen. War lange genug selbst einer gewesen. Und jetzt konnte er jedem in die Karten schauen. Natürlich meinte es kaum einer wirklich ehrlich, wenn er jemandem „Frohe Weihnachten!“ wünschte, doch ein solcher Kontrast zwischen Gesagtem und in Wahrheit Gedachtem war dem Obdachlosen selten begegnet.
Ob es in seinem Leben nichts Schönes gibt?
Welch Ironie, dass ausgerechnet er, der stets zu den Füßen der Passanten lag, sich Gedanken um ihr Wohlergehen machte.
Zum Glück verstand er es wohlweislich, dieser bizarren Angewohnheit nur so lange zu frönen, wie sie ihn keine gute Gelegenheit kostete.
Ob die junge Frau im Pelzkragen sich wohl erweichen lassen würde, ihm einen Knochen zuzuwerfen?
Wobei Lichterketten es auch tun, dachte Amuro und war sich nicht ganz sicher, ob er verärgert oder belustigt über die Beleuchtung der Nachbarhäuser sein sollte. Es war beeindruckend wie Japan das Christentum konsequent ignorieren und doch den Stromverbrauch Tokios in dieser Zeit mit Sicherheit um das Zehnfache steigern konnte, mit all den niedlichen Engeln, Weihnachtsmännern und Lichterkränzen, die an den Fassaden um die Wette leuchteten. Erleichtert zog er seine Handschuhe aus, ohne die er den kleinen Spaziergang vermutlich nicht überlebt hätte und ließ sich mit einem geräuschvollen Seufzer auf sein Sofa fallen. Niemand hier war so eine Kälte gewohnt, aber offensichtlich war die Natur auch in Weihnachtsstimmung und hatte gleich das passende Wetter angeliefert.
Ein Hoch auf die Klimaerwärmung, meine Freunde, und fröhliche Weihnachten!
Sein Blick fiel auf den Anrufbeantworter neben ihm. Insgeheim hatte er gehofft, die süße Kleine, die er gestern im Café Poirot getroffen hatte, hätte sich bei ihm gemeldet, doch das kleine Lichtlein am Gerät weigerte sich hartnäckig zu blinken.
Dann also kein Fest der Liebe dieses Jahr.
Schulterzuckend zündete er sich eine weitere Zigarette an. Erwartete man nichts vom Weihnachtsfest, war man auch nicht enttäuscht, wenn man letztendlich mit leeren Händen dastand. Er würde diesen Tag verbringen wie jeden anderen, sich abends seine Zigaretten holen, vielleicht mit einem falschen Lächeln auf den Lippen noch ein heißes Getränk zu sich nehmen, um dann anschließend ein gutes Buch zu lesen oder zu zusehen, wie ein paar Aliens die schleimtriefenden Köpfe weggeblasen wurden.
Wie aber würde es den Kindern gehen, die voller Erwartungen vor ihren Weihnachtsbäumen knien? Den Paaren, die sich schmachtend in den Armen liegen? Wie wird dieses Fest für die Menschen werden, die geblendet vom Lichtermeer und betäubt von all der prahlerischen Herrlichkeit immer mehr wollen? Die sich jedes Jahr sagen, sie schenken sich nichts, nur um dann noch größer aufzutrumpfen?
Wie Könige und Königinnen bauen sie ihre kleinen Festungen auf, machen sich bereit für die Schlacht des Jahres, den Kampf um die besten Preise, die meiste Liebe, die schönsten Gedanken. Dann stürmen sie los, voller Angst, die Erwartungen ihres Königreichs, ihrer Kinder und Kindeskinder nicht zu erfüllen und mit leeren Händen dazustehen. Grausam war der Kampf, brutal das Ende, mühsam der Weg, doch seht sie euch an, hurra, da stehen sie, die Soldaten, vollbepackt mit guten Gaben und bereit für das nächste Jahr. Alle Jahr wieder.
Auf dass es ein Massaker werde.
Der Abend des 24. Dezembers unterschied sich durch nichts von den bisherigen Adventabenden. Zumindest nicht, als Amuro seine Wohnung verließ, um wie jeden Abend seine kleine Runde zu gehen und die heißersehnten Zigaretten zu holen. Da er tagsüber im Café arbeitete, fand er nur wenig Zeit, sich seiner Sucht hinzugeben, weshalb es für ihn nichts Schöneres gab, als den Abend gemütlich rauchend auf dem Sofa ausklingen zu lassen. Auch heute hatte er gearbeitet, weshalb es selbstverständlich für ihn war, erneut seinen kleinen Spaziergang anzutreten. Zwar stellte er nach ein paar Metern ärgerlich fest, dass er seine Handschuhe vergessen hatte, doch widerstrebte es ihm aus unerfindlichen Gründen seine gewohnte Route zu unterbrechen und noch einmal umzukehren.
Der Mensch ist eben doch ein Gewohnheitstier.
Kurz vor seinem Lieblingskiosk fiel ihm ein Obdachloser auf, dessen Blick für einen Moment an ihm hängen blieb. Kurz überlegte er, ob er ihn kannte, kam aber zu dem Schluss, den Mann noch nie vorher gesehen zu haben. Wahrscheinlich gehörte er einer dieser Gruppen an, die sich systematisch zum Betteln verabredeten, um Weihnachten rum musste das bei all der überschäumenden Güte wirklich ein florierendes Geschäft sein. Beschwingten Schrittes ging er weiter, wobei er sich ein kleines Grinsen nicht verkneifen konnte.
Was kann es Amüsanteres geben, als den Leuten ihre Scheinheiligkeit unter die Nase zu reiben? Sie müssen es nicht mal mitbekommen, nein, es reicht, wenn ich es weiß, während ich sie anlächle.
Es reicht, wenn ich ihr Geheimnis kenne.
Und wieder dieser Mann. Hätte er die Hälfte seiner monatlichen Solarienkosten in soziale Zwecke investiert, dann, so war sich Mann sicher, wäre der Weltfrieden längst garantiert gewesen. Wieder trug er sein falsches Grinsen in die Welt. Der Obdachlose wollte nicht mit ihm tauschen, auch, wenn es wie Hohn klingen mochte. Doch was er sah, wenn er diesen Menschen erblickte, waren oberflächliche Bekanntschaften. Kollegen, deren Ertragen einen ungesunden Blutalkoholgehalt erforderte. Liebschaften, deren Ertragen einen toxischen Blutalkoholgehalt erforderte. Eine Familie, die...
Bevor er seine durchaus amüsante Gedankenkette fortsetzen konnte, witterte er eine Gelegenheit und wechselte in den beruflichen Modus.
Ein Geschäftsmann, dessen Körpergewicht er dreistellig und dessen Kontostand er neunstellig schätzte. Ein fröhliches Lächeln und Alkoholgeruch aus seinem Mund. Die perfekte Gelegenheit.
„Ein paar Yen für einen armen Mann?“
Tatsächlich klimperten auf die Bitte hin ein paar Yen in dem Hut des Obdachlosen, den er bittstellend auf die Straße gelegt hatte. Er konnte allerdings nicht sagen, dass er positiv überrascht war. Von jemandem, der so aussah, als würde er die eben zurückgelegte Strecke normalerweise im Lamborghini fahren, hatte er sich mehr erhofft.
Das reicht ja gerade einmal für einen Kaffee.
„Das Übliche?“, fragte der Kioskbesitzer freundlich wie immer, während er schon nach Amuros Lieblingszigaretten griff.
„Ja, danke. Ich hoffe, Sie feiern heute Abend schön.“
Nicht, dass es einen Grund dazu gäbe.
„Oh ja, ich kann kaum erwarten, zu meiner Frau und meiner kleinen Tochter nach Hause zu kommen, es ist immer wieder schön zu sehen, wie sehr ihre Augen leuchten können, wenn sie weiß, dass sie gleich etwas geschenkt bekommt.“
Amuro stimmte in sein Lachen ein, während er nach seinem Geldbeutel kramte und ärgerte sich erneut, seine Handschuhe vergessen zu haben. Normalerweise waren die Temperaturen in Tokio zur Winterzeit recht angenehm, weshalb ihm wie vielen anderen die Gewohnheit fehlte, sich dick einzupacken, wenn man das Haus verließ. Seine Finger fühlten sich klamm und steif an, ganz zu schweigen von seiner Haut, der er förmlich beim Austrocknen zu sehen konnte. Seufzend nahm er die Zigaretten entgegen, zahlte und wünschte allen umstehenden fröhliche Weihnachten, wobei er seine Hände tief in den Jackentaschen vergrub.
Da Amuro keinen Grund hatte, von seinem üblichen Weg abzuweichen, fiel ihm sofort auf, dass etwas fehlte. Der Obdachlose, der seit einiger Zeit immer an der gleichen Häuserecke gesessen und gebettelt hatte, war verschwunden.
Vermutlich muss er gerade das liebgewonnene Geld an seine Bandenkollegen abtreten und verbringt dann den Weihnachtsabend in Decken eingepackt unter einer Brücke kauernd.
Überrascht bemerkte er, dass er sogar stehen geblieben war, während er über den älteren Mann nachgedacht hatte.
Vielleicht berührt es mich ja wirklich. Irgendwann infiziert diese sentimentale Zeit wohl jeden.
Amuro wollte gerade kopfschüttelnd den Heimweg antreten, als er hinter sich eine Bewegung spürte.
Viel zu nah.
Blitzschnell fuhr er herum, bereit einen potenziellen Gegner niederzuschlagen. Doch zu seiner Verblüffung sah er sich nur mit dem Penner konfrontiert, der seine Ecke wohl nur kurz verlassen hatte. Amuro schaffte es glücklicherweise noch, seine ruckartige Bewegung zu kontrollieren und trat einen Schritt beiseite. Durch seine eiskalten Hände, die er mittlerweile gar nicht mehr spürte, blieb sein Blick für einen Moment an dem dampfenden Kaffeebecher in der Hand des Obdachlosen hängen. Wie wunderbar warm er sein musste, warm genug um seine Hände aufzutauen und ihm den frostigen Nachhauseweg zu versüßen. Allerdings hatte er der Gewohnheit wegen nur exakt den Betrag mitgenommen, den er für die Zigaretten gebraucht hatte.
Er konnte sich keinen Kaffee leisten.
Sein Gegenüber schien seinen Blick bemerkt zu haben, denn er machte keine Anstalten, sich wieder in Bewegung zu setzen. Stattdessen streckte er den Arm aus und hielt dem ungläubigen Amuro seinen Becher hin.
Und wieder war er dem Mann begegnet, der, sollte ihn je ein Vampir beißen, immer noch eine Hautfarbe haben musste, für die andere Leute in den Süden reisten. Der Obdachlose wusste selbst nicht, warum ihn dieser Mann so beschäftigte. Vermutlich war es nur die Langeweile. Vermutlich gab es keinen besonderen Grund und der Mann fiel ihm nur durch sein ungewöhnliches Aussehen auf. Rational betrachtet war es vermutlich die falsche Entscheidung gewesen, dem Mann den willkommenen Becher Wärme zu bringen, doch der Obdachlose bereute es für keine Sekunde. Vielleicht würde es dem Mann etwas Weihnachtlichkeit schenken.
Und außerdem, lachte er in sich hinein, wer braucht schon einen Kaffee, in den ihm eine Fliege geflogen ist.
Heute öffnen wir Türchen Nr. 20 an unseren Adventskalender. Dieses stammt von Lunell. Viel Freude damit!
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Quo Vadis?
„Weihnachten: ein besonderer Tag der Völlerei, Trunksucht, Gefühlsduselei, Annahme von Geschenken, öffentlichem Stumpfsinn und häuslichem Protzen gewidmet.“
– Ambrose Gwinnett Bierce (1842 - 1914), genannt Bitter Pierce, US-amerikanischer Journalist und Satiriker
Das Fest der Liebe, das Fest des Schenkens, der Freude, der allmächtigen, zuckergusstropfenden Herrlichkeit, garniert mit einem pummeligen Engel in einem unschuldig weißen Spitzenensemble.
Ist das nicht einfach wunderbar?
Der junge Mann verzog angewidert das Gesicht und nutzte den kläglichen Rest seiner Selbstbeherrschung, der nicht durch das bunte Treiben in den Läden zerfressen worden war, um den Blick von den Scheußlichkeiten abzuwenden, die vor ihm auf dem Tresen ausgebreitet waren und sein charmantes Lächeln wieder in Form zu bringen.
„Eine Schachtel Marlboro, bitte.“
„Gerne“, der etwas ältere, bebrillte Kioskbesitzer nickte ihm freundlich zu. „Und fröhliche Weihnachten.“
„Ihnen auch“, strahlte er fast übertrieben gut gelaunt zurück.
Fröhlich pfeifend trat er den Heimweg an, wobei er sich behutsam seine erste Zigarette an diesem Abend anzündete – es war höchste Zeit, seine Nerven zu beruhigen.
Normalerweise war Amuro Touru niemand, der sich schnell aus der Ruhe bringen ließ, allerdings war Weihnachten stets ein Fest gewesen, das ihn im höchsten Maße abgestoßen hatte. Es war einfach ein Fest, das in seiner Sinnlosigkeit, die in dekadenter Albernheit es darzustellen nicht müde wurde, unübertroffen war. Ein Fest der Doppelmoral, der vergoldeten Messer im Rücken der Mitbürger, während man ihnen mit wohlwollendem Lachen den Glühwein nachschenkt.
Also warum sollte ich es anders machen? Warum darf ich nicht lächeln wie sie? Nur weil sie sich selbst besser belügen können?
Letztendlich ist das Schöne an diesem Schaulaufen doch, dass wir alle daran teilhaben können. Ob groß ob klein, recken sie die Hälse, um einen Blick auf die prächtig behangenen Tannen, die funkelnden Lichter und all die weiß eingepackte Friedlichkeit zu erhaschen.
Es ist eine magische Zeit, in der alle Probleme vergessen scheinen. Man schluckt den Groll über den trinkenden Ehemann oder die keifende Nachbarin einfach hinunter, denn es ist eine Zeit des Besinnens und eine Zeit des Verzeihens, die einzige Gelegenheit, die Schulden, die man das Jahr über angehäuft hat zu bezahlen, indem man den Armen ein Stöckchen hinwirft, mit dem sie spielen können. Womöglich beschäftigt es sie ja bis zum nächsten Jahr, wenn das Spiel von vorne beginnt.
„Entschuldigung, haben Sie etwas Kleingeld übrig?“
Amuro machte sich nicht einmal die Mühe, sich umzudrehen.
Lasst uns einfach ein bisschen Glitzer draufstreuen, dann sieht die Welt gleich viel besser aus.
So ganz schien das Konzept der Nächstenliebe bei dem jungen Mann, dessen Hautfarbe jedem Schwarzafrikaner Konkurrenz gemacht hätte, noch nicht angekommen zu sein. Den Obdachlosen – er hatte natürlich auch einen Namen, doch Namen waren etwas für Menschen, und diese Eigenschaft hatte er nach seinem Empfinden lange abgelegt – vermochte diese Tatsache nicht zu verwundern. Er erkannte einen Lügner, wenn er ihn sah. Hatte genug Lügner getroffen. War lange genug selbst einer gewesen. Und jetzt konnte er jedem in die Karten schauen. Natürlich meinte es kaum einer wirklich ehrlich, wenn er jemandem „Frohe Weihnachten!“ wünschte, doch ein solcher Kontrast zwischen Gesagtem und in Wahrheit Gedachtem war dem Obdachlosen selten begegnet.
Ob es in seinem Leben nichts Schönes gibt?
Welch Ironie, dass ausgerechnet er, der stets zu den Füßen der Passanten lag, sich Gedanken um ihr Wohlergehen machte.
Zum Glück verstand er es wohlweislich, dieser bizarren Angewohnheit nur so lange zu frönen, wie sie ihn keine gute Gelegenheit kostete.
Ob die junge Frau im Pelzkragen sich wohl erweichen lassen würde, ihm einen Knochen zuzuwerfen?
Wobei Lichterketten es auch tun, dachte Amuro und war sich nicht ganz sicher, ob er verärgert oder belustigt über die Beleuchtung der Nachbarhäuser sein sollte. Es war beeindruckend wie Japan das Christentum konsequent ignorieren und doch den Stromverbrauch Tokios in dieser Zeit mit Sicherheit um das Zehnfache steigern konnte, mit all den niedlichen Engeln, Weihnachtsmännern und Lichterkränzen, die an den Fassaden um die Wette leuchteten. Erleichtert zog er seine Handschuhe aus, ohne die er den kleinen Spaziergang vermutlich nicht überlebt hätte und ließ sich mit einem geräuschvollen Seufzer auf sein Sofa fallen. Niemand hier war so eine Kälte gewohnt, aber offensichtlich war die Natur auch in Weihnachtsstimmung und hatte gleich das passende Wetter angeliefert.
Ein Hoch auf die Klimaerwärmung, meine Freunde, und fröhliche Weihnachten!
Sein Blick fiel auf den Anrufbeantworter neben ihm. Insgeheim hatte er gehofft, die süße Kleine, die er gestern im Café Poirot getroffen hatte, hätte sich bei ihm gemeldet, doch das kleine Lichtlein am Gerät weigerte sich hartnäckig zu blinken.
Dann also kein Fest der Liebe dieses Jahr.
Schulterzuckend zündete er sich eine weitere Zigarette an. Erwartete man nichts vom Weihnachtsfest, war man auch nicht enttäuscht, wenn man letztendlich mit leeren Händen dastand. Er würde diesen Tag verbringen wie jeden anderen, sich abends seine Zigaretten holen, vielleicht mit einem falschen Lächeln auf den Lippen noch ein heißes Getränk zu sich nehmen, um dann anschließend ein gutes Buch zu lesen oder zu zusehen, wie ein paar Aliens die schleimtriefenden Köpfe weggeblasen wurden.
Wie aber würde es den Kindern gehen, die voller Erwartungen vor ihren Weihnachtsbäumen knien? Den Paaren, die sich schmachtend in den Armen liegen? Wie wird dieses Fest für die Menschen werden, die geblendet vom Lichtermeer und betäubt von all der prahlerischen Herrlichkeit immer mehr wollen? Die sich jedes Jahr sagen, sie schenken sich nichts, nur um dann noch größer aufzutrumpfen?
Wie Könige und Königinnen bauen sie ihre kleinen Festungen auf, machen sich bereit für die Schlacht des Jahres, den Kampf um die besten Preise, die meiste Liebe, die schönsten Gedanken. Dann stürmen sie los, voller Angst, die Erwartungen ihres Königreichs, ihrer Kinder und Kindeskinder nicht zu erfüllen und mit leeren Händen dazustehen. Grausam war der Kampf, brutal das Ende, mühsam der Weg, doch seht sie euch an, hurra, da stehen sie, die Soldaten, vollbepackt mit guten Gaben und bereit für das nächste Jahr. Alle Jahr wieder.
Auf dass es ein Massaker werde.
Der Abend des 24. Dezembers unterschied sich durch nichts von den bisherigen Adventabenden. Zumindest nicht, als Amuro seine Wohnung verließ, um wie jeden Abend seine kleine Runde zu gehen und die heißersehnten Zigaretten zu holen. Da er tagsüber im Café arbeitete, fand er nur wenig Zeit, sich seiner Sucht hinzugeben, weshalb es für ihn nichts Schöneres gab, als den Abend gemütlich rauchend auf dem Sofa ausklingen zu lassen. Auch heute hatte er gearbeitet, weshalb es selbstverständlich für ihn war, erneut seinen kleinen Spaziergang anzutreten. Zwar stellte er nach ein paar Metern ärgerlich fest, dass er seine Handschuhe vergessen hatte, doch widerstrebte es ihm aus unerfindlichen Gründen seine gewohnte Route zu unterbrechen und noch einmal umzukehren.
Der Mensch ist eben doch ein Gewohnheitstier.
Kurz vor seinem Lieblingskiosk fiel ihm ein Obdachloser auf, dessen Blick für einen Moment an ihm hängen blieb. Kurz überlegte er, ob er ihn kannte, kam aber zu dem Schluss, den Mann noch nie vorher gesehen zu haben. Wahrscheinlich gehörte er einer dieser Gruppen an, die sich systematisch zum Betteln verabredeten, um Weihnachten rum musste das bei all der überschäumenden Güte wirklich ein florierendes Geschäft sein. Beschwingten Schrittes ging er weiter, wobei er sich ein kleines Grinsen nicht verkneifen konnte.
Was kann es Amüsanteres geben, als den Leuten ihre Scheinheiligkeit unter die Nase zu reiben? Sie müssen es nicht mal mitbekommen, nein, es reicht, wenn ich es weiß, während ich sie anlächle.
Es reicht, wenn ich ihr Geheimnis kenne.
Und wieder dieser Mann. Hätte er die Hälfte seiner monatlichen Solarienkosten in soziale Zwecke investiert, dann, so war sich Mann sicher, wäre der Weltfrieden längst garantiert gewesen. Wieder trug er sein falsches Grinsen in die Welt. Der Obdachlose wollte nicht mit ihm tauschen, auch, wenn es wie Hohn klingen mochte. Doch was er sah, wenn er diesen Menschen erblickte, waren oberflächliche Bekanntschaften. Kollegen, deren Ertragen einen ungesunden Blutalkoholgehalt erforderte. Liebschaften, deren Ertragen einen toxischen Blutalkoholgehalt erforderte. Eine Familie, die...
Bevor er seine durchaus amüsante Gedankenkette fortsetzen konnte, witterte er eine Gelegenheit und wechselte in den beruflichen Modus.
Ein Geschäftsmann, dessen Körpergewicht er dreistellig und dessen Kontostand er neunstellig schätzte. Ein fröhliches Lächeln und Alkoholgeruch aus seinem Mund. Die perfekte Gelegenheit.
„Ein paar Yen für einen armen Mann?“
Tatsächlich klimperten auf die Bitte hin ein paar Yen in dem Hut des Obdachlosen, den er bittstellend auf die Straße gelegt hatte. Er konnte allerdings nicht sagen, dass er positiv überrascht war. Von jemandem, der so aussah, als würde er die eben zurückgelegte Strecke normalerweise im Lamborghini fahren, hatte er sich mehr erhofft.
Das reicht ja gerade einmal für einen Kaffee.
„Das Übliche?“, fragte der Kioskbesitzer freundlich wie immer, während er schon nach Amuros Lieblingszigaretten griff.
„Ja, danke. Ich hoffe, Sie feiern heute Abend schön.“
Nicht, dass es einen Grund dazu gäbe.
„Oh ja, ich kann kaum erwarten, zu meiner Frau und meiner kleinen Tochter nach Hause zu kommen, es ist immer wieder schön zu sehen, wie sehr ihre Augen leuchten können, wenn sie weiß, dass sie gleich etwas geschenkt bekommt.“
Amuro stimmte in sein Lachen ein, während er nach seinem Geldbeutel kramte und ärgerte sich erneut, seine Handschuhe vergessen zu haben. Normalerweise waren die Temperaturen in Tokio zur Winterzeit recht angenehm, weshalb ihm wie vielen anderen die Gewohnheit fehlte, sich dick einzupacken, wenn man das Haus verließ. Seine Finger fühlten sich klamm und steif an, ganz zu schweigen von seiner Haut, der er förmlich beim Austrocknen zu sehen konnte. Seufzend nahm er die Zigaretten entgegen, zahlte und wünschte allen umstehenden fröhliche Weihnachten, wobei er seine Hände tief in den Jackentaschen vergrub.
Da Amuro keinen Grund hatte, von seinem üblichen Weg abzuweichen, fiel ihm sofort auf, dass etwas fehlte. Der Obdachlose, der seit einiger Zeit immer an der gleichen Häuserecke gesessen und gebettelt hatte, war verschwunden.
Vermutlich muss er gerade das liebgewonnene Geld an seine Bandenkollegen abtreten und verbringt dann den Weihnachtsabend in Decken eingepackt unter einer Brücke kauernd.
Überrascht bemerkte er, dass er sogar stehen geblieben war, während er über den älteren Mann nachgedacht hatte.
Vielleicht berührt es mich ja wirklich. Irgendwann infiziert diese sentimentale Zeit wohl jeden.
Amuro wollte gerade kopfschüttelnd den Heimweg antreten, als er hinter sich eine Bewegung spürte.
Viel zu nah.
Blitzschnell fuhr er herum, bereit einen potenziellen Gegner niederzuschlagen. Doch zu seiner Verblüffung sah er sich nur mit dem Penner konfrontiert, der seine Ecke wohl nur kurz verlassen hatte. Amuro schaffte es glücklicherweise noch, seine ruckartige Bewegung zu kontrollieren und trat einen Schritt beiseite. Durch seine eiskalten Hände, die er mittlerweile gar nicht mehr spürte, blieb sein Blick für einen Moment an dem dampfenden Kaffeebecher in der Hand des Obdachlosen hängen. Wie wunderbar warm er sein musste, warm genug um seine Hände aufzutauen und ihm den frostigen Nachhauseweg zu versüßen. Allerdings hatte er der Gewohnheit wegen nur exakt den Betrag mitgenommen, den er für die Zigaretten gebraucht hatte.
Er konnte sich keinen Kaffee leisten.
Sein Gegenüber schien seinen Blick bemerkt zu haben, denn er machte keine Anstalten, sich wieder in Bewegung zu setzen. Stattdessen streckte er den Arm aus und hielt dem ungläubigen Amuro seinen Becher hin.
Und wieder war er dem Mann begegnet, der, sollte ihn je ein Vampir beißen, immer noch eine Hautfarbe haben musste, für die andere Leute in den Süden reisten. Der Obdachlose wusste selbst nicht, warum ihn dieser Mann so beschäftigte. Vermutlich war es nur die Langeweile. Vermutlich gab es keinen besonderen Grund und der Mann fiel ihm nur durch sein ungewöhnliches Aussehen auf. Rational betrachtet war es vermutlich die falsche Entscheidung gewesen, dem Mann den willkommenen Becher Wärme zu bringen, doch der Obdachlose bereute es für keine Sekunde. Vielleicht würde es dem Mann etwas Weihnachtlichkeit schenken.
Und außerdem, lachte er in sich hinein, wer braucht schon einen Kaffee, in den ihm eine Fliege geflogen ist.
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