Huhu liebe DC-Fans,
das 22. Türchen verbirgt eine OS von Corab.
Wir wünschen viel Spaß beim Lesen =)
358 Tage
„Ist es so weit?“
Shiho Miyano war verwirrt. Das zahnlose Lächeln des alten Manns irritierte sie. So durfte man nicht reagieren, wenn man einer Situation wie dieser gegenüberstand. Diese gelassene Freundlichkeit, die er ihr gegenüber zeigte, war einfach falsch. Sie schluckte, musterte ihn noch einmal genauer. War das ein Trick? Wollte er sie in die Irre führen? Nein.
Dazu war er zu klug, kannte sie zu gut. Er wusste zweifellos, dass sie ihn nicht aus den Riemen befreien würde, die seinen Körper fest an die Liege schnürten. Dass sie nichts tun würde, um seine Situation auch nur das kleinste bisschen angenehmer zu gestalten.
Sie biss sich auf ihre Lippe und schmeckte salziges Blut, was ihre einstudiert neutrale Miene für einen kurzen Moment verzerrte. Seine blauen Augen, wie immer gleichzeitig von Scharfsinnigkeit und warmer Freundlichkeit erfüllt, ließen es ihn sofort bemerken.
„Was hast du, Shiho?“ Wie konnte er diese Frage stellen? Wie konnte er diese Frage ernst meinen? Die Wissenschaftlerin schluckte und antwortete schließlich mit einer Gegenfrage.
„W-warum sind Sie so gelassen?“
Er schloss die Augen und seufzte. „Warum sollte ich nicht? Du bist doch meine Freundin.“
„Nein.“ Kalt und bitter kroch die Erwiderung ihre Kehle hinauf. „Ich bin Ihre Mörderin.“
„Niemand hat festgelegt, dass das einander ausschließen muss.“ Seine Lippen formten ein sanftes Lächeln. „Und ich bin schon auf das, was jetzt passiert, vorbereitet gewesen. Das einzige, was ich bereue, ist, dass mir kein geeignetes Waka einfallen will.“
„Aber...“
„Nun tu, was du tun musst, Mädchen.“
Miyano atmete mehrmals tief ein und aus. Nun war es also so weit. Sie hatte diesen Tag lange gefürchtet, doch jetzt war es so weit. Es gab nichts, was sie dagegen tun konnte. Zumindest wollte sie das gern glauben.
Die Wissenschaftlerin zückte ihre Spritze, die sie die ganze Zeit in der Jackentasche ihrer Laborkleidung umklammert gehabt hatte. Sie gönnte sich einen allerletzten Moment des Zögerns, dann wagte sie den Schritt, der ihr zur Liege des Mannes fehlte. Seine Augen waren noch immer geschlossen, was es ihr leichter machte, die passende Stelle an seinem Arm zu suchen und die Spritze hinein zu stechen. Ein Schweißtropfen perlte ihre Stirn herunter, als sie das transparente Gift in seinen Körper injizierte.
Als Miyano fertig war, lag der Mann noch für einen Augenblick ruhig da.
Für einen viel zu kurzen Moment keimten zarte Pflänzchen der Hoffnung in ihr auf, doch sie verendeten in dem Moment, in dem sein Arm zu zucken begann. Zuerst war es nur ein leichtes Zittern, doch in Windeseile wurde es zu einem wilden Zappeln. Während seine Arme sinnlos durch die Luft ruderten, schoss weißer Speichel aus seinem Mund und besprenkelte sein Gesicht. Doch am schlimmsten waren seine Schreie. Von seiner Gelassenheit war nichts mehr vorhanden, besinnungslos und von Panik erfüllt schrie er seine Verzweiflung in die Welt. Egal, wie sehr man sich ein würdevolles Sterben vornahm, das Apoptoxin würde es nicht zulassen.
Schließlich erfüllte ein schrilles Piepen den Raum und der Körper des alten Manns erschlaffte. Die Geräte signalisierten mit einer traurigen grünen Linie auf ihrer Anzeige das Herzversagen.
Shiho Miyano schluckte.
Sie hatte ihren ersten echten Freund getötet.
„Was, schon wieder ein Neuer?“ Shiho blickte den jungen bebrillten Mann, der ihr gegenüber stand, missmutig an. Er war, obgleich fünf Jahre älter als sie, ihr Untergebener und eigentlich war es ihre Aufgabe, ihn in der Laborarbeit anzulernen. Doch seine Qualifikation glich der der Laborratten, die sie für ihre Tests benutzten, weswegen sie ihn hauptsächlich als Sekretär beschäftigte, der Anweisungen und Nachrichten entgegennahm. Unerfreuliche Nachrichten in diesem Fall. Wieder hatte man ihr einen neuen Testkandidaten zugeteilt, an dem es diverse Präparate des APTX auszuprobieren galt. Wie immer würde es ihre Aufgabe sein, ihn schleichend mit immer größeren Dosen des Toxins zu vergiften, bis er schließlich starb.
Sie hasste das - es führte ihre Forschung nicht weiter. Zwar war es grundsätzlich gut, so viele Testdaten wie möglich zu haben, doch andererseits hinderte es sie daran, die nächste Stufe zu erreichen und verschwendete wertvolle Zeit, die sie für die Weiterentwicklung ihres noch rudimentären Prototypen weitaus besser hätte nutzen können. Dementsprechend genervt war die Wissenschaftlerin als sie, das Klemmbrett in der Hand, zu der Zelle des Neuankömmlings marschierte. Hinter der Panzerglaswand, die nur ein Hindurchsehen von außen erlaubte, konnte Miyano einen greisen Mann erkennen. Obwohl weder der enorme Stress, den seine Verschleppung in das Organisationslabor mit sich gebracht hatte, noch die Laborvorschrift, die einen einheitlichen grauen Overall und rasierten Kopf verlangte, seinem Äußeren gut getan hatte, konnte Miyano erkennen, dass der Mann in seinen jungen Jahren recht attraktiv gewesen sein musste. Er verströmte immer noch etwas Vitales, eine Art erfrischenden Hauch, wie man ihn selten in diesen Fluren antraf.
Das Interesse der Wissenschaftlerin erfuhr eine weitere Steigerung, als sie erkannte, dass der Mann nicht nur in Hinblick auf seine Ausstrahlung ein Novum unter ihren Testsubjekten darstellte – er war auch der erste Nichtasiat, was sie überraschte. Normalerweise beschaffte die Organisation sich ihre Opfer über Verbindungen zu den Yakuza, die ihre wegen ihrer enormen Schulden leicht zu missbrauchenden Arbeitssklaven günstig abgab. Selbstverständlich handelte es sich hierbei zumeist um Japaner.
Mit einem Mal bahnte sich makabre Euphorie ihren Weg in Miyanos Kopf, sie witterte die Gelegenheit, tatsächlich wieder relevante Daten zu sammeln. An einem Weißen hatte sie das Mittel bisher immerhin noch nicht zu testen vermocht.
Spontan entschied sie sich, dem Mann einen ersten Besuch abzustatten.
„Was ist der Code für seine Zelle?“
Der Praktikant sah sie überrascht an. Offenbar hatte er nach ihrer Verstimmung nicht erwartet, dass sie sich sofort pflichtbewusst ans Werk machen würde.
„Ähm,“ Er sah auf einen Zettel. „863863.“
Ohne Dankeswort ging Miyano auf die Zelle zu und tippte die Ziffernfolge in das elektronische Schloss.
Ihr Finger schwebte über der grünen Enter-Taste, als sie sich doch noch einmal ihrem Lehrling zu wandte. „Sie können jetzt abhauen und was Sinnvolles machen.“
Nachdem der junge Mann unangenehm überrascht dem Befehl Folge geleistet hatte, tätigte sie endlich die Eingabe.
Unter melodischem Sirren schob die Panzerglaswand sich zur Seite und bot über einen beengend schmalen Spalt Einlass. Sie hatte bis heute nicht verstanden, warum die Unterbringungen der Gefangenen ausgerechnet auf diese unpraktische Art und Weise zu öffnen waren. Doch jetzt war nicht der Zeitpunkt, sich über Konstruktionsfehler des Gebäudes aufzuregen. Sie hatte einen Testkandidaten zu begutachten.
Die Wissenschaftlerin ging zögerlich durch den Spalt. Es war immer etwas eigenartig, mit einem neuen Gefangenen auf Tuchfühlung zu gehen. Jeder reagierte anders auf eine Situation, in der er nichts anderes als ein besseres Versuchskaninchen war.
Dieser Mann reagierte zunächst überhaupt nicht.
Stumm, mit gesenkten Kopf und an den Füßen in eine Sitzposition gefesselt saß er da. Schlief er? Sie räusperte sich deutlich, doch der Mann zeigte wieder keine Regung. Provoziert wagte sie einen Schritt auf ihn zu.
„Hallo“, sagte sie, in einem deutlich lauteren Ton. Wieder keine Antwort. Konnte man im Sitzen überhaupt so tief schlafen? Jetzt reichte es ihr endgültig. Mit energischen Schritten ging sie zu ihm und baute sich vor ihm auf. Gerade, als sie im Begriff war, ihm ins Ohr zu brüllen, wurde ihr ihr kapitaler Fehler bewusst: Dieser Mann war ausschließlich an seinen Füßen gefesselt, seine Arme standen ihm nach wie vor uneingeschränkt zur Verfügung. Für einen Gefangenen in dieser Lage schrieben die Laborregeln mindestens zwei Meter rettenden Sicherheitsabstands vor. Und sie stand unmittelbar vor diesem Ausländer.
Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag und und ließ sie zusammenfahren. Doch bevor sie reagieren konnte, hatten seine kräftigen Hände sie gepackt und drehten ihr die Arme schmerzhaft auf den Rücken.
„Hilfe!“, schrie sie, doch der Praktikant war außer Hörweite. Sie hatte ihn ja selbst weggeschickt. Plötzlich drückte ihr die Pranke des Manns fest auf den Mund, sodass sie keine Gelegenheit zu einem weiteren Hilferuf hatte.
Verzweifelt zappelte sie und versuchte, sich zu befreien, doch ihr schmächtiger, von der anstrengenden Forschungsarbeit ausgelaugter Körper war wehrlos, wie ein Insekt in einem Spinnennetz.
„Ihr dreckigen Scheißkerle“, brüllte der Ausländer plötzlich auf Englisch, „Was habt ihr mit mir vor?“
Er riss seine Augen auf, in denen die Wut heiß und feurig brannte.
Zumindest für einen Moment. In dem Augenblick, in dem er der Wissenschaftlerin ins Gesicht sah, lockerte sich sein Griff plötzlich und in seiner wutverzerrten Fratze zeigte sich etwas, das mehr nach Entsetzen aussah.
„W-wie alt bist du?“ Eine seltsame, irritierte Frage, die in der kleinen Zelle widerhallte.
Schließlich drehte er sie um und griff nach ihrem Laborausweis, der um ihren Hals hing.
„Sherry,“ Er las weiter und gelangte schließlich beim Geburtsdatum an, dass aus einem unerfindlichen Grund auch auf die Ausweise der Organisation gedruckt wurde. Als er die Kopfrechenarbeit beendet hatte, ließ er sie sofort los.
„Das kann nicht sein. Das kann nicht sein. So jung... 15?“
Sie antwortete nicht, sondern rannte in dem Moment, in dem er sie losgelassen hatte, auf den schmalen Spalt zu, der ihre Freiheit bedeutete. Er versuchte gar nicht, sie noch einmal zu packen, viel zu geschockt war er über die Tatsache, dass jemand, den man normalerweise als harmloses junges Mädchen angesehen hätte, zu seinen Peinigern gehörte.
Keuchend ein- und ausatmend schloss Shiho Miyano mit einem zittrigen Tastendruck die Panzerglastür. Ihr Herz pochte in einer wahnwitzigen Geschwindigkeit und es fiel ihr schwer, zu atmen. Die Gefahr, in der sie sich eben aufgrund ihrer eigenen Leichtsinnigkeit befunden hatte, ließ ihren Kopf schmerzhaft dröhnen.
Als sie endlich das Gefühl hatte, wieder gerade laufen zu können, tapste sie zögerlich zu ihrem Büro. Ihr war immer noch schwindelig, doch dieser Vorfall bedurfte einer Meldung an ihren Vorgesetzten. Schließlich in dem neutral und unpersönlich eingerichteten Raum angekommen, ließ sie sich in ihren Polsterstuhl fallen und griff nach dem Telefon. Wie sehr sie noch unter Schock stand, bemerkte sie, als ihre Hände beim Tippen derart zitterten, dass sie sich mehrmals verwählte, bis sie endlich die Nummer des richtigen Gesprächspartners hatte.
Sie wurde sofort verbunden.
„Was ist, Sherry?“ Grußlos wie immer.
„Es, es gab einen Zwischenfall im Labor.“
„Welcher Art?“
Sie zögerte. Etwas in ihrem Inneren rebellierte. Sie spürte, dass sie nicht sagen wollte, was sie sagen sollte. Aber wieso?
„Ich wurde,“ Wenn sie von dem Zwischenfall erzählte, würde ihr wohl eine Disziplinarstrafe wegen Missachtung der Vorschriften drohen. Aber das konnte es nicht sein, daran konnte es nicht liegen,
„soeben im Labor,“
Und natürlich würde man einen derart problematischen Testkandidaten für ungeeignet befinden und sofort exekutieren. Konnte es daran liegen? Das kann nicht sein, sagte sie sich. Denk nach, er wollte dich umbringen,
„von einem,“
Wollte. Das musste es sein. Er hatte sie gehen lassen. Wieso verstand sie noch nicht so recht. Er hatte sie gehen lassen. Es würde irgendwann ihre Aufgabe sein, ihn zu töten, doch er hatte sie gehen gelassen. Es musste dieser Widerspruch sein, der es ihr falsch erscheinen ließ. Eine seltsame, irrationale Empfindung, die ihr fremd war. Aber eine starke Empfindung. Die Wissenschaftlerin entschied sich zur Lüge,
„meiner Mitarbeiter angepöbelt.“
„Und deswegen rufst du mich an? Bist du verrückt? Klär das gefälligst selbst.“
Sie schluckte.
„Sie haben Recht. Verzeihung, es war ein Fehler, Sie anzurufen.“
„Sorge dafür, dass es nicht wieder vorkommt. Als leitende Wissenschaftlerin musst du dir Respekt verschaffen können.“
„Natürlich.“
Mit diesen Worten legte sie auf. Warum hatte sie das getan? Warum hatte sie diesen Mann geschützt? Sie wusste es nicht, doch sie hatte das Gefühl, das Richtige getan zu haben.
Die Schritte ihrer Stöckelschuhe hallten auf dem steinernen Boden wieder, als Shiho Miyano ihn überquerte. Ihr Gefühl von vor wenigen Stunden hatte jetzt, nachdem sie noch einmal gründlich darüber nachgedacht und die Konsequenzen bedacht hatte, nachgelassen. Mittlerweile tendierte sie sogar dazu, ihre dreiste Lüge als einen kapitalen Fehler einzuschätzen. Sie hätte diesen ausländischen Mistkerl doch sterben lassen sollen, dass sie ihn gedeckt hatte, brachte sie in eine unangenehme Lage. Nur zu leicht konnte ihre Lüge mit den Überwachungskameras durchschaut werden und darauf, angelogen zu werden, würde ihr Vorgesetzter sicher mit mehr als einer Disziplinarmaßnahme reagieren. Und nun war sie bereits im Begriff, die nächste Vorschriftsverletzung zu begehen, um die erste zu kaschieren.
Zögerlich öffnete sie die rostige Stahltür, die in den Raum mit den Überwachungsaufnahmen führte. Als leitende Wissenschaftlerin besaß sie glücklicherweise einen Schlüssel für alle Räume des Labors.
Nervös und angespannt wie eine Katze, die sich zum Sprung bereit macht, lief die Wissenschaftlerin durch die Gänge, bis sie schließlich das richtige Terminal gefunden hatte. Das System fuhr viel zu langsam hoch, denn es konnte jeden Moment jemand hereinkommen und sie in Erklärungsnot bringen. Miyano schluckte und sah noch einmal über ihre Schulter. Erst, als sie zu hundert Prozent sicher war, dass niemand außer ihr in dem Raum war, wandte sie sich wieder dem System zu, dass mittlerweile betriebsbereit war. Hastig wählte sie die betreffenden Aufnahmen aus, erwog für einen kurzen Moment, sie noch einmal anzusehen, doch die Bilder ihres eigenen Versagens erschienen ihr zu schmählich, weswegen sie die Datei unbesehen löschte, was eine Woge der Erleichterung durch ihren Körper sandte.
Jetzt würde ihre Lüge hoffentlich unbemerkt bleiben.
Sie wollte es nicht tun, doch sie musste. Wenn sie erreichen wollte, dass ihr Zwischenfall mit dem Gefangenen unbemerkt blieb, musste sie diesen wie bisher der üblichen Behandlung unterziehen. Überdies musste sie ein Gespräch mit ihm riskieren, um sicherzugehen, dass auch er als Mitwisser seinen Mund geschlossen hielt. Letzteres war der deutlich schwerere Teil. Sie konnte nur hoffen das, was auch immer diesen Mann dazu bewogen hatte, sie zu verschonen, ihn auch dazu bewog, sie zu decken.
Sie hasste es, sich auf irrationale Hoffnungen verlassen zu müssen. Sie hatte Angst, wegen der Ungewissheit, die diese mit sich brachten. Und sie spürte die Angst, mit jedem Tastendruck wurde auch der Druck, der auf ihr lastete, größer, und bei der letzten hatte sie das Gefühl, gleichzeitig zusammenbrechen und sich übergeben zu müssen.
Ängstlich schritt sie durch den Spalt, der ihr enger vorkam, als er es je zuvor getan hatte. Dieses Mal war der Mann eindeutig wach und seine Augen geöffnet.
Miyano zögerte kurz, und gerade, als sie ihren Mund öffnen wollte, kam er ihr zuvor.
„Du bist zurück.“
Ein freundlicher englischer Satz, ganz anders als sein Gebrüll bei ihrer ersten Begegnung. Die Freundlichkeit war entwaffnend, brachte sie aus ihrem Konzept. Für einen kurzen Moment erwog
sie, Hals über Kopf aus der Zelle zu stürmen. Es war weniger ihrem Mut zuzuschreiben, dass sie blieb, denn vielmehr ihrer Unfähigkeit, Kontrolle über ihre Beine zu erlangen.
„Kannst du überhaupt Englisch?“ Wieder war er freundlich, so verdammt freundlich. Wieso?
Sie sortierte die Worte in ihrem Kopf, ging verschiedene mögliche Erwiderungen durch, von „Ich stelle hier die Fragen.“ zu „Klappe halten.“ Letzten Endes entschied sie sich jedoch für ein simples Ja.
Warum antwortete sie diesem Kerl? Er war ihr ausgeliefert. Er hatte angsterfüllt zu sein, panisch. Sie fühlte, wie er ihr ihre wackelige Machtposition unter den Füßen wegzog und es behagte ihr nicht.
„Ich verstehe“ Er sah sie ernst an, „Ich hätte nicht erwartet, dass du dich nach der Sache gestern wieder so schnell hier rein traust. Und vor allem ohne Begleitung.“ Er sah sie scharf an. Dieser Blick – es war, als würde er die Wahrheit aus ihre heraussaugen. Sie musste ihm widerstehen. Die Wissenschaftlerin entschied sich, nicht auf seine indirekte Frage zu antworten, obwohl es ihr eine Überleitung zu dem Thema erlaubt hätte, das sie ohnehin hatte anschneiden wollen.
„Warum haben Sie mich gestern gehen lassen?“ Eigentlich war die Frage zu respektvoll und freundlich gestellt, doch immerhin dominierte sie jetzt das Gespräch.
Er lachte. Wieso? Er durfte nicht lachen, dazu hatte er kein Recht.
„Ich tue doch keine Fünfzehnjährigen weh.“
Ihr Alter. Das war es also. Sie grinste. Was für ein lächerlicher Idiot. Statt sie als Geisel auszunutzen und sich so immerhin etwas näher an die Hoffnung auf Freiheit zu bringen, war er wegen seines Anstands zum Tod in einer kleinen Zelle verdammt.
Und naiv war er auch noch. „Dieses Alter hätte auch ein Trick sein können.“
Der greise Mann schüttelte belustigt seinen kahl rasierten Kopf.
„Nein. Ich habe es in dem Moment gesehen, als ich die Augen geöffnet habe. Dein Gesicht. Da steckt ein naives Kind drin. Dir fehlt dieser abgeklärte, harte Gesichtsausdruck, den deine älteren Kollegen haben.“
„Sie fantasieren.“
„Sicher nicht.“
Sie grinste böse.
„Wissen Sie, was meine Aufgabe hier ist? Ich entwickle ein Gift, das ohne Spuren zu hinterlassen tötet und ich teste es“ Die Wissenschaftlerin lies ihren Blick genüsslich auf seinem Gesicht ruhen, welches gleich von Schock erfüllt sein würde, „an Leuten wie Ihnen. Ich erhöhe die Dosis schleichend. Zuerst haben sie Krämpfe. Dann stärkere Krämpfe. Und schließlich sterben sie.“
Miyano ließ die Worte eine Weile im Raum stehen, damit er ihren Inhalt erfassen und sich ihrer Bedeutung bewusst werden konnte. Doch seine Reaktion erfüllte ihre Erwartungen nicht.
Der Ausländer lächelte immer noch, jetzt nur etwas trauriger.
„Ich weiß nicht, was eine Fünfzehnjährige dazu führt, solche Dinge zu tun, doch ich erwarte nicht, dass sie für solche Dinge verantwortlich gemacht werden kann. Hinter dieser Zelle stecken offenbar mächtige Leute und du bist genauso sehr ihr bemitleidenswertes Spielzeug wie ich.“
„Sie reden Müll. Soll ich es Ihnen beweisen?“
Mit diesen Worten zog sie die Spritze. Die Menge des enthaltenen Gifts war zumindest bei Asiaten nicht tödlich, aber sehr schmerzhaft. Ohne zu zögern ging sie auf ihn zu – seine Hände waren mittlerweile auf ihre Anweisung hin ebenfalls mit glänzenden Stahlhandschellen gefesselt worden – und stach die Nadel ein. Die Effekte zeigten sich fast sofort: Der Ausländer bäumte sich auf und verfiel in ein markerschütterndes Schreien.
Normalerweise wäre sie noch eine Weile stehengeblieben, um die Wirkung aus nächster Nähe zu begutachten, doch dieses Mal schien eine unsichtbare Macht sie mit dem ersten Schrei aus der Zelle zu zerren.
Miyano verstand selbst nicht, warum sie ganz entgegen ihrer Gewohnheiten so schnell auf den Spalt zuging, der ihr jetzt ein wenig größer schien.
War es etwa Mitleid? Nein, das konnte nicht sein.
Er war doch bloß ein lächerlicher Idiot.
Auch in den nächsten Tagen fühlte sie sich in der Nähe des Ausländers, der auf den Namen Ryan White hörte, seltsam. Immer wieder ertappte sie sich bei dem Gedanken, seine tägliche Dosis des Gifts zu reduzieren und auch, wenn sie sich letztendlich immer davon abhalten konnte, beunruhigte sie diese Entwicklung doch. Auch auf seine Gesprächsversuche reagierte sie gelegentlich und mehr als einmal befürchtete sie, dass er begann, sie zu manipulieren.
Die Wissenschaftlerin blieb daher stets alarmiert und wartete, dass er sie bat, seine Fesseln zu lösen.
Ständig überlegte sie sich mögliche Wege darauf zu reagieren, doch benötigt wurde es nie. Obwohl sie ihn immer in der Zelle vergammeln ließ und ihm jeden Tag äußerste Schmerzen bereitete, blieb er ihr gegenüber offen und freundlich. Sie war allerdings die einzige, der er diese Art der Zuneigung zuteil werden ließ, seine Behandlung der anderen Mitarbeiter der Organisation war vergleichbar mit dem Verhalten, das er bei ihrem ersten Treffen gezeigt hatte. Die Sonderbehandlung irritierte Miyano, weswegen sie sich schlussendlich entschied, ihn darauf anzusprechen. Seine Erwiderung war nicht zufriedenstellend
„Ich habe es dir doch bereits gesagt, ich habe es in deinem Gesicht gesehen. Ein naives Kind. Aufrichtigkeit. Einen Menschen, der im Herzen gut ist. Das alles sehe ich bei deinen Kollegen nicht.“
„Ich habe Ihnen bereits gesagt, dass so etwas Einbildung ist.“
„Ich weiß, dass du das gesagt hast“ Er zögerte kurz, „Aber weißt du, das hier ist wirklich ein Drecksloch. Ich scheiße in eine Windel, bin die meiste Zeit in dieser Zelle festgebunden und bekomme jeden Tag dieser widerwärtige Zeug verabreicht. Ach, und das Essen ist auch so ein billiger Fraß. Normalerweise wäre ich schon lange durchgedreht. Aber jedes Mal, wenn ich dich sehe, weiß ich, dass es jemanden gibt, dem es viel schlechter geht, als es bei mir der Fall ist.“
„Ich kann mich frei bewegen.“
„Deine Freiheit ist eine Illusion. Weißt du, es gibt Dinge, die merkt man. Ich frage mich wirklich, warum du tust, was du tust, und ich glaube nicht, dass du eine befriedigende Antwort hast.“
„Wir leben in einem deterministischen System. Es ist Bestimmung.“
Er zog eine Augenbraue hoch.
„Wer sagt das?“
Sein Blick wurde stoisch erwidert.
„Die Logik. Selbst ein lebender Mensch ist nichts als eine Kette der Reaktion vieler unterschiedlicher Teilchen. Das gilt auch für die Prozesse in unserem Gehirn. Wenn wir denken, glauben wir zwar an einen freien Willen, doch in Wahrheit werden die vielen Faktoren, die als elektrische Signale unsere Gehirne durchqueren uns immer zu genau einem Schluss führen.“
Er seufzte.
„Ist das nicht eine traurige Ausrede? Sicherlich, die Wissenschaftlichkeit ist etwas Schönes, aber glaubst du nicht, dass es etwas dumm ist, eine sichere Aussage über das Leben an sich zu treffen, ohne das dessen Natur uns eindeutig bekannt ist? Rein wissenschaftlich ausgedrückt würde ich sagen, dass dir die Messwertgrundlage fehlt. Wer sagt, dass etwas Lebendes Leben überhaupt begreifen kann?“
Die Wissenschaftlerin schluckte, sagte aber nichts, sondern gab ihm bloß seine tägliche Dosis und wandte sich dann wie üblich ab, als die ersten Schreie erklangen.
Ihr fiel auf, dass der Spalt von einem Ausgang in letzter Zeit immer breiter geworden zu sein schien. Welches missgeleitete Signal sie wohl zu dieser eindeutigen Schlussfolgerung veranlasst hatte?
„Sag mir eins, Sherry.“
„Was?“ Seit Whites Einlieferung im ersten Januar waren fast sechs Monate ins Land gegangen. Inzwischen war es für Miyano etwas vollkommen Normales, weitaus mehr Zeit mit dem Ausländer als all ihren Patienten zusammengenommen zu verbringen. Offiziell tat sie dies natürlich wegen der Messdaten, doch inzwischen fiel es selbst ihr schwer, zu verleugnen, dass sie die Gespräche suchte.
„Hattest du eine schwere Zeit in Amerika?“
Woher wissen Sie...?“ Sie hatte Amerika in ihren Gesprächen nie erwähnt.
„Dein Ostküstenakzent ist ja wohl mehr aus eindeutig. So schön spricht nur jemand Englisch, der lange Zeit hatte, das zu verinnerlichen.“
Fast hätte sie gegrinst, doch so weit hatte sie ihren Eispanzer noch nicht schmelzen lassen.
„Ich hatte viel Zeit zu lernen und zu studieren.“
„Wenn das das beste ist, woran du dich erinnern kannst, muss es eine beschissene Zeit gewesen sein. Kein normales Kind würde - “
„Ich bin nie ein normales Kind gewesen“, erwiderte sie mit einem leicht verbitterten Ton.
Wieder einmal lächelte er sanft.
„Daran zweifle ich nicht. Aber dennoch, ich habe als Kind immer die Weihnachtsfeste geliebt. Sie feiern in Japan kein Weihnachten, nicht wahr?“
„Ich habe es auch in Amerika nicht gefeiert.“
„Das ist schade. Weißt du, ich habe immer die Stimmung geliebt. Mit Familie und Freunden beim Weihnachtsbaum sitzen. Das war das größte Geschenk.“
Ein undefinierbares Gefühl nagte an Shiho, als sie diesen Satz hörte. Sie konnte es sich nicht erklären, verstand es nicht. Also tat sie, was sie immer tat: Davor weglaufen.
„Es ist Zeit für die tägliche Dosis.“
Die Schreie hallten ungewöhnlich laut in den Ohren, als sie die Zelle hastig verließ.
Warum tat sie, was sie tat? Sowohl insgesamt als auch in diesem Moment. Beides waren gute Fragen, doch sie hatten beide gute Antworten. Insgesamt tat sie, was sie tat, weil sie dazu gezwungen wurde. In diesem Moment tat sie, was sie tat, weil sie zum ersten Mal in ihrem Leben wirklich frei war. Der sechsstellige Zifferncode ging ihr leicht von der Hand, eine seltsame Euphorie erfüllte sie und ließ den Spalt, der sich öffnete, außergewöhnlich breit erscheinen.
„Sherry“, begrüße White sie mit einem verzerrten Lächeln, „ist es Zeit für die tägliche Dosis?“
Sie antwortete nicht, ging nur wortlos auf ihn zu. Er kniff die Augen zusammen, offenbar erwartete er eine unangenehme Überraschung.
Doch sie zog nicht ihr Spritze hervor, stattdessen streckte sie ihren Arm aus und hielt den Tannenbaumzweig vor sein Gesicht.
„Ein Geschenk.“ Das erste, das sie je gemacht hatte. Das wichtigste, das sie je machen würde.
Zum ersten Mal seit sie ihn kannte zeigte der Greis mehr als nur ein schmales Lächeln, öffnete seinen Mund, offenbarte seinen Mangel an Zähnen und ließ ein lautes Lachen hören.
Er hatte Recht gehabt, was seine fünfzehnjährige Peinigerin anging. Er hatte die ganze Zeit Recht gehabt.
„Wie erklärst du das?“ Ihr Vorgesetzter zeigte mit düsterer Miene auf das Überwachungsvideo, das, wenngleich glücklicherweise ohne Ton, deutlich zeigte, wie die Wissenschaftlerin mit einem Tannenzweig in der Hand in eine Gefangenenzelle ging. Sie hatte es nicht rechtzeitig löschen können.
„Ich wollte Weihnachten feiern. Früher, in Amerika, habe ich oft miterlebt, wie es gefeiert wurde.“
„Und wieso in einer Gefangenenzelle?“
„Ich hatte den Zweig gerade zufällig in der Hand.“
„Und warum lacht der Gefangene?“
„Er ist verrückt geworden. Ich kann es ihm nicht verdenken.“
Ihr Vorgesetzter grinste: „Dann bring ihn um. Wir haben genug Testkandidaten, wir brauchen diesen Irren nicht.“
„Ich würde gerne weitere Tests durchführen. Er ist mein einziger Weißer.“ Mein einziger Freund.
„Du solltest besser meinen Anweisungen folgen, Sherry, denn sonst hätte eine gewisse kleine Schwester eine gewisse große Schwester auf dem Gewissen.“
Sie schluckte.
„Ich verstehe.“
Traurig betrachtete Shiho die leere Zelle. Sie wusste, wenn sie jetzt die Tür öffnen würde, wäre der Spalt ganz schmal.
das 22. Türchen verbirgt eine OS von Corab.
Wir wünschen viel Spaß beim Lesen =)
358 Tage
„Ist es so weit?“
Shiho Miyano war verwirrt. Das zahnlose Lächeln des alten Manns irritierte sie. So durfte man nicht reagieren, wenn man einer Situation wie dieser gegenüberstand. Diese gelassene Freundlichkeit, die er ihr gegenüber zeigte, war einfach falsch. Sie schluckte, musterte ihn noch einmal genauer. War das ein Trick? Wollte er sie in die Irre führen? Nein.
Dazu war er zu klug, kannte sie zu gut. Er wusste zweifellos, dass sie ihn nicht aus den Riemen befreien würde, die seinen Körper fest an die Liege schnürten. Dass sie nichts tun würde, um seine Situation auch nur das kleinste bisschen angenehmer zu gestalten.
Sie biss sich auf ihre Lippe und schmeckte salziges Blut, was ihre einstudiert neutrale Miene für einen kurzen Moment verzerrte. Seine blauen Augen, wie immer gleichzeitig von Scharfsinnigkeit und warmer Freundlichkeit erfüllt, ließen es ihn sofort bemerken.
„Was hast du, Shiho?“ Wie konnte er diese Frage stellen? Wie konnte er diese Frage ernst meinen? Die Wissenschaftlerin schluckte und antwortete schließlich mit einer Gegenfrage.
„W-warum sind Sie so gelassen?“
Er schloss die Augen und seufzte. „Warum sollte ich nicht? Du bist doch meine Freundin.“
„Nein.“ Kalt und bitter kroch die Erwiderung ihre Kehle hinauf. „Ich bin Ihre Mörderin.“
„Niemand hat festgelegt, dass das einander ausschließen muss.“ Seine Lippen formten ein sanftes Lächeln. „Und ich bin schon auf das, was jetzt passiert, vorbereitet gewesen. Das einzige, was ich bereue, ist, dass mir kein geeignetes Waka einfallen will.“
„Aber...“
„Nun tu, was du tun musst, Mädchen.“
Miyano atmete mehrmals tief ein und aus. Nun war es also so weit. Sie hatte diesen Tag lange gefürchtet, doch jetzt war es so weit. Es gab nichts, was sie dagegen tun konnte. Zumindest wollte sie das gern glauben.
Die Wissenschaftlerin zückte ihre Spritze, die sie die ganze Zeit in der Jackentasche ihrer Laborkleidung umklammert gehabt hatte. Sie gönnte sich einen allerletzten Moment des Zögerns, dann wagte sie den Schritt, der ihr zur Liege des Mannes fehlte. Seine Augen waren noch immer geschlossen, was es ihr leichter machte, die passende Stelle an seinem Arm zu suchen und die Spritze hinein zu stechen. Ein Schweißtropfen perlte ihre Stirn herunter, als sie das transparente Gift in seinen Körper injizierte.
Als Miyano fertig war, lag der Mann noch für einen Augenblick ruhig da.
Für einen viel zu kurzen Moment keimten zarte Pflänzchen der Hoffnung in ihr auf, doch sie verendeten in dem Moment, in dem sein Arm zu zucken begann. Zuerst war es nur ein leichtes Zittern, doch in Windeseile wurde es zu einem wilden Zappeln. Während seine Arme sinnlos durch die Luft ruderten, schoss weißer Speichel aus seinem Mund und besprenkelte sein Gesicht. Doch am schlimmsten waren seine Schreie. Von seiner Gelassenheit war nichts mehr vorhanden, besinnungslos und von Panik erfüllt schrie er seine Verzweiflung in die Welt. Egal, wie sehr man sich ein würdevolles Sterben vornahm, das Apoptoxin würde es nicht zulassen.
Schließlich erfüllte ein schrilles Piepen den Raum und der Körper des alten Manns erschlaffte. Die Geräte signalisierten mit einer traurigen grünen Linie auf ihrer Anzeige das Herzversagen.
Shiho Miyano schluckte.
Sie hatte ihren ersten echten Freund getötet.
„Was, schon wieder ein Neuer?“ Shiho blickte den jungen bebrillten Mann, der ihr gegenüber stand, missmutig an. Er war, obgleich fünf Jahre älter als sie, ihr Untergebener und eigentlich war es ihre Aufgabe, ihn in der Laborarbeit anzulernen. Doch seine Qualifikation glich der der Laborratten, die sie für ihre Tests benutzten, weswegen sie ihn hauptsächlich als Sekretär beschäftigte, der Anweisungen und Nachrichten entgegennahm. Unerfreuliche Nachrichten in diesem Fall. Wieder hatte man ihr einen neuen Testkandidaten zugeteilt, an dem es diverse Präparate des APTX auszuprobieren galt. Wie immer würde es ihre Aufgabe sein, ihn schleichend mit immer größeren Dosen des Toxins zu vergiften, bis er schließlich starb.
Sie hasste das - es führte ihre Forschung nicht weiter. Zwar war es grundsätzlich gut, so viele Testdaten wie möglich zu haben, doch andererseits hinderte es sie daran, die nächste Stufe zu erreichen und verschwendete wertvolle Zeit, die sie für die Weiterentwicklung ihres noch rudimentären Prototypen weitaus besser hätte nutzen können. Dementsprechend genervt war die Wissenschaftlerin als sie, das Klemmbrett in der Hand, zu der Zelle des Neuankömmlings marschierte. Hinter der Panzerglaswand, die nur ein Hindurchsehen von außen erlaubte, konnte Miyano einen greisen Mann erkennen. Obwohl weder der enorme Stress, den seine Verschleppung in das Organisationslabor mit sich gebracht hatte, noch die Laborvorschrift, die einen einheitlichen grauen Overall und rasierten Kopf verlangte, seinem Äußeren gut getan hatte, konnte Miyano erkennen, dass der Mann in seinen jungen Jahren recht attraktiv gewesen sein musste. Er verströmte immer noch etwas Vitales, eine Art erfrischenden Hauch, wie man ihn selten in diesen Fluren antraf.
Das Interesse der Wissenschaftlerin erfuhr eine weitere Steigerung, als sie erkannte, dass der Mann nicht nur in Hinblick auf seine Ausstrahlung ein Novum unter ihren Testsubjekten darstellte – er war auch der erste Nichtasiat, was sie überraschte. Normalerweise beschaffte die Organisation sich ihre Opfer über Verbindungen zu den Yakuza, die ihre wegen ihrer enormen Schulden leicht zu missbrauchenden Arbeitssklaven günstig abgab. Selbstverständlich handelte es sich hierbei zumeist um Japaner.
Mit einem Mal bahnte sich makabre Euphorie ihren Weg in Miyanos Kopf, sie witterte die Gelegenheit, tatsächlich wieder relevante Daten zu sammeln. An einem Weißen hatte sie das Mittel bisher immerhin noch nicht zu testen vermocht.
Spontan entschied sie sich, dem Mann einen ersten Besuch abzustatten.
„Was ist der Code für seine Zelle?“
Der Praktikant sah sie überrascht an. Offenbar hatte er nach ihrer Verstimmung nicht erwartet, dass sie sich sofort pflichtbewusst ans Werk machen würde.
„Ähm,“ Er sah auf einen Zettel. „863863.“
Ohne Dankeswort ging Miyano auf die Zelle zu und tippte die Ziffernfolge in das elektronische Schloss.
Ihr Finger schwebte über der grünen Enter-Taste, als sie sich doch noch einmal ihrem Lehrling zu wandte. „Sie können jetzt abhauen und was Sinnvolles machen.“
Nachdem der junge Mann unangenehm überrascht dem Befehl Folge geleistet hatte, tätigte sie endlich die Eingabe.
Unter melodischem Sirren schob die Panzerglaswand sich zur Seite und bot über einen beengend schmalen Spalt Einlass. Sie hatte bis heute nicht verstanden, warum die Unterbringungen der Gefangenen ausgerechnet auf diese unpraktische Art und Weise zu öffnen waren. Doch jetzt war nicht der Zeitpunkt, sich über Konstruktionsfehler des Gebäudes aufzuregen. Sie hatte einen Testkandidaten zu begutachten.
Die Wissenschaftlerin ging zögerlich durch den Spalt. Es war immer etwas eigenartig, mit einem neuen Gefangenen auf Tuchfühlung zu gehen. Jeder reagierte anders auf eine Situation, in der er nichts anderes als ein besseres Versuchskaninchen war.
Dieser Mann reagierte zunächst überhaupt nicht.
Stumm, mit gesenkten Kopf und an den Füßen in eine Sitzposition gefesselt saß er da. Schlief er? Sie räusperte sich deutlich, doch der Mann zeigte wieder keine Regung. Provoziert wagte sie einen Schritt auf ihn zu.
„Hallo“, sagte sie, in einem deutlich lauteren Ton. Wieder keine Antwort. Konnte man im Sitzen überhaupt so tief schlafen? Jetzt reichte es ihr endgültig. Mit energischen Schritten ging sie zu ihm und baute sich vor ihm auf. Gerade, als sie im Begriff war, ihm ins Ohr zu brüllen, wurde ihr ihr kapitaler Fehler bewusst: Dieser Mann war ausschließlich an seinen Füßen gefesselt, seine Arme standen ihm nach wie vor uneingeschränkt zur Verfügung. Für einen Gefangenen in dieser Lage schrieben die Laborregeln mindestens zwei Meter rettenden Sicherheitsabstands vor. Und sie stand unmittelbar vor diesem Ausländer.
Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag und und ließ sie zusammenfahren. Doch bevor sie reagieren konnte, hatten seine kräftigen Hände sie gepackt und drehten ihr die Arme schmerzhaft auf den Rücken.
„Hilfe!“, schrie sie, doch der Praktikant war außer Hörweite. Sie hatte ihn ja selbst weggeschickt. Plötzlich drückte ihr die Pranke des Manns fest auf den Mund, sodass sie keine Gelegenheit zu einem weiteren Hilferuf hatte.
Verzweifelt zappelte sie und versuchte, sich zu befreien, doch ihr schmächtiger, von der anstrengenden Forschungsarbeit ausgelaugter Körper war wehrlos, wie ein Insekt in einem Spinnennetz.
„Ihr dreckigen Scheißkerle“, brüllte der Ausländer plötzlich auf Englisch, „Was habt ihr mit mir vor?“
Er riss seine Augen auf, in denen die Wut heiß und feurig brannte.
Zumindest für einen Moment. In dem Augenblick, in dem er der Wissenschaftlerin ins Gesicht sah, lockerte sich sein Griff plötzlich und in seiner wutverzerrten Fratze zeigte sich etwas, das mehr nach Entsetzen aussah.
„W-wie alt bist du?“ Eine seltsame, irritierte Frage, die in der kleinen Zelle widerhallte.
Schließlich drehte er sie um und griff nach ihrem Laborausweis, der um ihren Hals hing.
„Sherry,“ Er las weiter und gelangte schließlich beim Geburtsdatum an, dass aus einem unerfindlichen Grund auch auf die Ausweise der Organisation gedruckt wurde. Als er die Kopfrechenarbeit beendet hatte, ließ er sie sofort los.
„Das kann nicht sein. Das kann nicht sein. So jung... 15?“
Sie antwortete nicht, sondern rannte in dem Moment, in dem er sie losgelassen hatte, auf den schmalen Spalt zu, der ihre Freiheit bedeutete. Er versuchte gar nicht, sie noch einmal zu packen, viel zu geschockt war er über die Tatsache, dass jemand, den man normalerweise als harmloses junges Mädchen angesehen hätte, zu seinen Peinigern gehörte.
Keuchend ein- und ausatmend schloss Shiho Miyano mit einem zittrigen Tastendruck die Panzerglastür. Ihr Herz pochte in einer wahnwitzigen Geschwindigkeit und es fiel ihr schwer, zu atmen. Die Gefahr, in der sie sich eben aufgrund ihrer eigenen Leichtsinnigkeit befunden hatte, ließ ihren Kopf schmerzhaft dröhnen.
Als sie endlich das Gefühl hatte, wieder gerade laufen zu können, tapste sie zögerlich zu ihrem Büro. Ihr war immer noch schwindelig, doch dieser Vorfall bedurfte einer Meldung an ihren Vorgesetzten. Schließlich in dem neutral und unpersönlich eingerichteten Raum angekommen, ließ sie sich in ihren Polsterstuhl fallen und griff nach dem Telefon. Wie sehr sie noch unter Schock stand, bemerkte sie, als ihre Hände beim Tippen derart zitterten, dass sie sich mehrmals verwählte, bis sie endlich die Nummer des richtigen Gesprächspartners hatte.
Sie wurde sofort verbunden.
„Was ist, Sherry?“ Grußlos wie immer.
„Es, es gab einen Zwischenfall im Labor.“
„Welcher Art?“
Sie zögerte. Etwas in ihrem Inneren rebellierte. Sie spürte, dass sie nicht sagen wollte, was sie sagen sollte. Aber wieso?
„Ich wurde,“ Wenn sie von dem Zwischenfall erzählte, würde ihr wohl eine Disziplinarstrafe wegen Missachtung der Vorschriften drohen. Aber das konnte es nicht sein, daran konnte es nicht liegen,
„soeben im Labor,“
Und natürlich würde man einen derart problematischen Testkandidaten für ungeeignet befinden und sofort exekutieren. Konnte es daran liegen? Das kann nicht sein, sagte sie sich. Denk nach, er wollte dich umbringen,
„von einem,“
Wollte. Das musste es sein. Er hatte sie gehen lassen. Wieso verstand sie noch nicht so recht. Er hatte sie gehen lassen. Es würde irgendwann ihre Aufgabe sein, ihn zu töten, doch er hatte sie gehen gelassen. Es musste dieser Widerspruch sein, der es ihr falsch erscheinen ließ. Eine seltsame, irrationale Empfindung, die ihr fremd war. Aber eine starke Empfindung. Die Wissenschaftlerin entschied sich zur Lüge,
„meiner Mitarbeiter angepöbelt.“
„Und deswegen rufst du mich an? Bist du verrückt? Klär das gefälligst selbst.“
Sie schluckte.
„Sie haben Recht. Verzeihung, es war ein Fehler, Sie anzurufen.“
„Sorge dafür, dass es nicht wieder vorkommt. Als leitende Wissenschaftlerin musst du dir Respekt verschaffen können.“
„Natürlich.“
Mit diesen Worten legte sie auf. Warum hatte sie das getan? Warum hatte sie diesen Mann geschützt? Sie wusste es nicht, doch sie hatte das Gefühl, das Richtige getan zu haben.
Die Schritte ihrer Stöckelschuhe hallten auf dem steinernen Boden wieder, als Shiho Miyano ihn überquerte. Ihr Gefühl von vor wenigen Stunden hatte jetzt, nachdem sie noch einmal gründlich darüber nachgedacht und die Konsequenzen bedacht hatte, nachgelassen. Mittlerweile tendierte sie sogar dazu, ihre dreiste Lüge als einen kapitalen Fehler einzuschätzen. Sie hätte diesen ausländischen Mistkerl doch sterben lassen sollen, dass sie ihn gedeckt hatte, brachte sie in eine unangenehme Lage. Nur zu leicht konnte ihre Lüge mit den Überwachungskameras durchschaut werden und darauf, angelogen zu werden, würde ihr Vorgesetzter sicher mit mehr als einer Disziplinarmaßnahme reagieren. Und nun war sie bereits im Begriff, die nächste Vorschriftsverletzung zu begehen, um die erste zu kaschieren.
Zögerlich öffnete sie die rostige Stahltür, die in den Raum mit den Überwachungsaufnahmen führte. Als leitende Wissenschaftlerin besaß sie glücklicherweise einen Schlüssel für alle Räume des Labors.
Nervös und angespannt wie eine Katze, die sich zum Sprung bereit macht, lief die Wissenschaftlerin durch die Gänge, bis sie schließlich das richtige Terminal gefunden hatte. Das System fuhr viel zu langsam hoch, denn es konnte jeden Moment jemand hereinkommen und sie in Erklärungsnot bringen. Miyano schluckte und sah noch einmal über ihre Schulter. Erst, als sie zu hundert Prozent sicher war, dass niemand außer ihr in dem Raum war, wandte sie sich wieder dem System zu, dass mittlerweile betriebsbereit war. Hastig wählte sie die betreffenden Aufnahmen aus, erwog für einen kurzen Moment, sie noch einmal anzusehen, doch die Bilder ihres eigenen Versagens erschienen ihr zu schmählich, weswegen sie die Datei unbesehen löschte, was eine Woge der Erleichterung durch ihren Körper sandte.
Jetzt würde ihre Lüge hoffentlich unbemerkt bleiben.
Sie wollte es nicht tun, doch sie musste. Wenn sie erreichen wollte, dass ihr Zwischenfall mit dem Gefangenen unbemerkt blieb, musste sie diesen wie bisher der üblichen Behandlung unterziehen. Überdies musste sie ein Gespräch mit ihm riskieren, um sicherzugehen, dass auch er als Mitwisser seinen Mund geschlossen hielt. Letzteres war der deutlich schwerere Teil. Sie konnte nur hoffen das, was auch immer diesen Mann dazu bewogen hatte, sie zu verschonen, ihn auch dazu bewog, sie zu decken.
Sie hasste es, sich auf irrationale Hoffnungen verlassen zu müssen. Sie hatte Angst, wegen der Ungewissheit, die diese mit sich brachten. Und sie spürte die Angst, mit jedem Tastendruck wurde auch der Druck, der auf ihr lastete, größer, und bei der letzten hatte sie das Gefühl, gleichzeitig zusammenbrechen und sich übergeben zu müssen.
Ängstlich schritt sie durch den Spalt, der ihr enger vorkam, als er es je zuvor getan hatte. Dieses Mal war der Mann eindeutig wach und seine Augen geöffnet.
Miyano zögerte kurz, und gerade, als sie ihren Mund öffnen wollte, kam er ihr zuvor.
„Du bist zurück.“
Ein freundlicher englischer Satz, ganz anders als sein Gebrüll bei ihrer ersten Begegnung. Die Freundlichkeit war entwaffnend, brachte sie aus ihrem Konzept. Für einen kurzen Moment erwog
sie, Hals über Kopf aus der Zelle zu stürmen. Es war weniger ihrem Mut zuzuschreiben, dass sie blieb, denn vielmehr ihrer Unfähigkeit, Kontrolle über ihre Beine zu erlangen.
„Kannst du überhaupt Englisch?“ Wieder war er freundlich, so verdammt freundlich. Wieso?
Sie sortierte die Worte in ihrem Kopf, ging verschiedene mögliche Erwiderungen durch, von „Ich stelle hier die Fragen.“ zu „Klappe halten.“ Letzten Endes entschied sie sich jedoch für ein simples Ja.
Warum antwortete sie diesem Kerl? Er war ihr ausgeliefert. Er hatte angsterfüllt zu sein, panisch. Sie fühlte, wie er ihr ihre wackelige Machtposition unter den Füßen wegzog und es behagte ihr nicht.
„Ich verstehe“ Er sah sie ernst an, „Ich hätte nicht erwartet, dass du dich nach der Sache gestern wieder so schnell hier rein traust. Und vor allem ohne Begleitung.“ Er sah sie scharf an. Dieser Blick – es war, als würde er die Wahrheit aus ihre heraussaugen. Sie musste ihm widerstehen. Die Wissenschaftlerin entschied sich, nicht auf seine indirekte Frage zu antworten, obwohl es ihr eine Überleitung zu dem Thema erlaubt hätte, das sie ohnehin hatte anschneiden wollen.
„Warum haben Sie mich gestern gehen lassen?“ Eigentlich war die Frage zu respektvoll und freundlich gestellt, doch immerhin dominierte sie jetzt das Gespräch.
Er lachte. Wieso? Er durfte nicht lachen, dazu hatte er kein Recht.
„Ich tue doch keine Fünfzehnjährigen weh.“
Ihr Alter. Das war es also. Sie grinste. Was für ein lächerlicher Idiot. Statt sie als Geisel auszunutzen und sich so immerhin etwas näher an die Hoffnung auf Freiheit zu bringen, war er wegen seines Anstands zum Tod in einer kleinen Zelle verdammt.
Und naiv war er auch noch. „Dieses Alter hätte auch ein Trick sein können.“
Der greise Mann schüttelte belustigt seinen kahl rasierten Kopf.
„Nein. Ich habe es in dem Moment gesehen, als ich die Augen geöffnet habe. Dein Gesicht. Da steckt ein naives Kind drin. Dir fehlt dieser abgeklärte, harte Gesichtsausdruck, den deine älteren Kollegen haben.“
„Sie fantasieren.“
„Sicher nicht.“
Sie grinste böse.
„Wissen Sie, was meine Aufgabe hier ist? Ich entwickle ein Gift, das ohne Spuren zu hinterlassen tötet und ich teste es“ Die Wissenschaftlerin lies ihren Blick genüsslich auf seinem Gesicht ruhen, welches gleich von Schock erfüllt sein würde, „an Leuten wie Ihnen. Ich erhöhe die Dosis schleichend. Zuerst haben sie Krämpfe. Dann stärkere Krämpfe. Und schließlich sterben sie.“
Miyano ließ die Worte eine Weile im Raum stehen, damit er ihren Inhalt erfassen und sich ihrer Bedeutung bewusst werden konnte. Doch seine Reaktion erfüllte ihre Erwartungen nicht.
Der Ausländer lächelte immer noch, jetzt nur etwas trauriger.
„Ich weiß nicht, was eine Fünfzehnjährige dazu führt, solche Dinge zu tun, doch ich erwarte nicht, dass sie für solche Dinge verantwortlich gemacht werden kann. Hinter dieser Zelle stecken offenbar mächtige Leute und du bist genauso sehr ihr bemitleidenswertes Spielzeug wie ich.“
„Sie reden Müll. Soll ich es Ihnen beweisen?“
Mit diesen Worten zog sie die Spritze. Die Menge des enthaltenen Gifts war zumindest bei Asiaten nicht tödlich, aber sehr schmerzhaft. Ohne zu zögern ging sie auf ihn zu – seine Hände waren mittlerweile auf ihre Anweisung hin ebenfalls mit glänzenden Stahlhandschellen gefesselt worden – und stach die Nadel ein. Die Effekte zeigten sich fast sofort: Der Ausländer bäumte sich auf und verfiel in ein markerschütterndes Schreien.
Normalerweise wäre sie noch eine Weile stehengeblieben, um die Wirkung aus nächster Nähe zu begutachten, doch dieses Mal schien eine unsichtbare Macht sie mit dem ersten Schrei aus der Zelle zu zerren.
Miyano verstand selbst nicht, warum sie ganz entgegen ihrer Gewohnheiten so schnell auf den Spalt zuging, der ihr jetzt ein wenig größer schien.
War es etwa Mitleid? Nein, das konnte nicht sein.
Er war doch bloß ein lächerlicher Idiot.
Auch in den nächsten Tagen fühlte sie sich in der Nähe des Ausländers, der auf den Namen Ryan White hörte, seltsam. Immer wieder ertappte sie sich bei dem Gedanken, seine tägliche Dosis des Gifts zu reduzieren und auch, wenn sie sich letztendlich immer davon abhalten konnte, beunruhigte sie diese Entwicklung doch. Auch auf seine Gesprächsversuche reagierte sie gelegentlich und mehr als einmal befürchtete sie, dass er begann, sie zu manipulieren.
Die Wissenschaftlerin blieb daher stets alarmiert und wartete, dass er sie bat, seine Fesseln zu lösen.
Ständig überlegte sie sich mögliche Wege darauf zu reagieren, doch benötigt wurde es nie. Obwohl sie ihn immer in der Zelle vergammeln ließ und ihm jeden Tag äußerste Schmerzen bereitete, blieb er ihr gegenüber offen und freundlich. Sie war allerdings die einzige, der er diese Art der Zuneigung zuteil werden ließ, seine Behandlung der anderen Mitarbeiter der Organisation war vergleichbar mit dem Verhalten, das er bei ihrem ersten Treffen gezeigt hatte. Die Sonderbehandlung irritierte Miyano, weswegen sie sich schlussendlich entschied, ihn darauf anzusprechen. Seine Erwiderung war nicht zufriedenstellend
„Ich habe es dir doch bereits gesagt, ich habe es in deinem Gesicht gesehen. Ein naives Kind. Aufrichtigkeit. Einen Menschen, der im Herzen gut ist. Das alles sehe ich bei deinen Kollegen nicht.“
„Ich habe Ihnen bereits gesagt, dass so etwas Einbildung ist.“
„Ich weiß, dass du das gesagt hast“ Er zögerte kurz, „Aber weißt du, das hier ist wirklich ein Drecksloch. Ich scheiße in eine Windel, bin die meiste Zeit in dieser Zelle festgebunden und bekomme jeden Tag dieser widerwärtige Zeug verabreicht. Ach, und das Essen ist auch so ein billiger Fraß. Normalerweise wäre ich schon lange durchgedreht. Aber jedes Mal, wenn ich dich sehe, weiß ich, dass es jemanden gibt, dem es viel schlechter geht, als es bei mir der Fall ist.“
„Ich kann mich frei bewegen.“
„Deine Freiheit ist eine Illusion. Weißt du, es gibt Dinge, die merkt man. Ich frage mich wirklich, warum du tust, was du tust, und ich glaube nicht, dass du eine befriedigende Antwort hast.“
„Wir leben in einem deterministischen System. Es ist Bestimmung.“
Er zog eine Augenbraue hoch.
„Wer sagt das?“
Sein Blick wurde stoisch erwidert.
„Die Logik. Selbst ein lebender Mensch ist nichts als eine Kette der Reaktion vieler unterschiedlicher Teilchen. Das gilt auch für die Prozesse in unserem Gehirn. Wenn wir denken, glauben wir zwar an einen freien Willen, doch in Wahrheit werden die vielen Faktoren, die als elektrische Signale unsere Gehirne durchqueren uns immer zu genau einem Schluss führen.“
Er seufzte.
„Ist das nicht eine traurige Ausrede? Sicherlich, die Wissenschaftlichkeit ist etwas Schönes, aber glaubst du nicht, dass es etwas dumm ist, eine sichere Aussage über das Leben an sich zu treffen, ohne das dessen Natur uns eindeutig bekannt ist? Rein wissenschaftlich ausgedrückt würde ich sagen, dass dir die Messwertgrundlage fehlt. Wer sagt, dass etwas Lebendes Leben überhaupt begreifen kann?“
Die Wissenschaftlerin schluckte, sagte aber nichts, sondern gab ihm bloß seine tägliche Dosis und wandte sich dann wie üblich ab, als die ersten Schreie erklangen.
Ihr fiel auf, dass der Spalt von einem Ausgang in letzter Zeit immer breiter geworden zu sein schien. Welches missgeleitete Signal sie wohl zu dieser eindeutigen Schlussfolgerung veranlasst hatte?
„Sag mir eins, Sherry.“
„Was?“ Seit Whites Einlieferung im ersten Januar waren fast sechs Monate ins Land gegangen. Inzwischen war es für Miyano etwas vollkommen Normales, weitaus mehr Zeit mit dem Ausländer als all ihren Patienten zusammengenommen zu verbringen. Offiziell tat sie dies natürlich wegen der Messdaten, doch inzwischen fiel es selbst ihr schwer, zu verleugnen, dass sie die Gespräche suchte.
„Hattest du eine schwere Zeit in Amerika?“
Woher wissen Sie...?“ Sie hatte Amerika in ihren Gesprächen nie erwähnt.
„Dein Ostküstenakzent ist ja wohl mehr aus eindeutig. So schön spricht nur jemand Englisch, der lange Zeit hatte, das zu verinnerlichen.“
Fast hätte sie gegrinst, doch so weit hatte sie ihren Eispanzer noch nicht schmelzen lassen.
„Ich hatte viel Zeit zu lernen und zu studieren.“
„Wenn das das beste ist, woran du dich erinnern kannst, muss es eine beschissene Zeit gewesen sein. Kein normales Kind würde - “
„Ich bin nie ein normales Kind gewesen“, erwiderte sie mit einem leicht verbitterten Ton.
Wieder einmal lächelte er sanft.
„Daran zweifle ich nicht. Aber dennoch, ich habe als Kind immer die Weihnachtsfeste geliebt. Sie feiern in Japan kein Weihnachten, nicht wahr?“
„Ich habe es auch in Amerika nicht gefeiert.“
„Das ist schade. Weißt du, ich habe immer die Stimmung geliebt. Mit Familie und Freunden beim Weihnachtsbaum sitzen. Das war das größte Geschenk.“
Ein undefinierbares Gefühl nagte an Shiho, als sie diesen Satz hörte. Sie konnte es sich nicht erklären, verstand es nicht. Also tat sie, was sie immer tat: Davor weglaufen.
„Es ist Zeit für die tägliche Dosis.“
Die Schreie hallten ungewöhnlich laut in den Ohren, als sie die Zelle hastig verließ.
Warum tat sie, was sie tat? Sowohl insgesamt als auch in diesem Moment. Beides waren gute Fragen, doch sie hatten beide gute Antworten. Insgesamt tat sie, was sie tat, weil sie dazu gezwungen wurde. In diesem Moment tat sie, was sie tat, weil sie zum ersten Mal in ihrem Leben wirklich frei war. Der sechsstellige Zifferncode ging ihr leicht von der Hand, eine seltsame Euphorie erfüllte sie und ließ den Spalt, der sich öffnete, außergewöhnlich breit erscheinen.
„Sherry“, begrüße White sie mit einem verzerrten Lächeln, „ist es Zeit für die tägliche Dosis?“
Sie antwortete nicht, ging nur wortlos auf ihn zu. Er kniff die Augen zusammen, offenbar erwartete er eine unangenehme Überraschung.
Doch sie zog nicht ihr Spritze hervor, stattdessen streckte sie ihren Arm aus und hielt den Tannenbaumzweig vor sein Gesicht.
„Ein Geschenk.“ Das erste, das sie je gemacht hatte. Das wichtigste, das sie je machen würde.
Zum ersten Mal seit sie ihn kannte zeigte der Greis mehr als nur ein schmales Lächeln, öffnete seinen Mund, offenbarte seinen Mangel an Zähnen und ließ ein lautes Lachen hören.
Er hatte Recht gehabt, was seine fünfzehnjährige Peinigerin anging. Er hatte die ganze Zeit Recht gehabt.
„Wie erklärst du das?“ Ihr Vorgesetzter zeigte mit düsterer Miene auf das Überwachungsvideo, das, wenngleich glücklicherweise ohne Ton, deutlich zeigte, wie die Wissenschaftlerin mit einem Tannenzweig in der Hand in eine Gefangenenzelle ging. Sie hatte es nicht rechtzeitig löschen können.
„Ich wollte Weihnachten feiern. Früher, in Amerika, habe ich oft miterlebt, wie es gefeiert wurde.“
„Und wieso in einer Gefangenenzelle?“
„Ich hatte den Zweig gerade zufällig in der Hand.“
„Und warum lacht der Gefangene?“
„Er ist verrückt geworden. Ich kann es ihm nicht verdenken.“
Ihr Vorgesetzter grinste: „Dann bring ihn um. Wir haben genug Testkandidaten, wir brauchen diesen Irren nicht.“
„Ich würde gerne weitere Tests durchführen. Er ist mein einziger Weißer.“ Mein einziger Freund.
„Du solltest besser meinen Anweisungen folgen, Sherry, denn sonst hätte eine gewisse kleine Schwester eine gewisse große Schwester auf dem Gewissen.“
Sie schluckte.
„Ich verstehe.“
Traurig betrachtete Shiho die leere Zelle. Sie wusste, wenn sie jetzt die Tür öffnen würde, wäre der Spalt ganz schmal.