3. Adventskalendertürchen

  • Dies ist das 3. Türchen des diesjährigen Adventskalender :)

    Autor: Ojala
    Thema Luciafest/Zigarette

    Schwarz auf weiß

    "Tut mir Leid, Leute. Ran hat angekündigt, mit mir heute in die Stadt gehen zu wollen. Ich kann also nachher nicht mit euch mitkommen." Conan meinte etwas Enttäuschung aus Ayumis Blick lesen zu können. "Zumindest kann ich nicht den ganzen Nachmittag bleiben. Es wird keine Ewigkeit dauern, eine Winterjacke und neue Handschuhe zu kaufen, aber ich müsste auf jeden Fall eine ganze Weile früher gehen."
    "Pah..." Ai schüttelte den Kopf, drehte sich aber nicht zu den anderen um. "Wir haben Mitte Dezember. Schaut doch mal aus dem Fenster, Schnee und Schneematsch überall. Es ist ohnehin eine Schnapsidee, bei dem Wetter Fußball spielen zu wollen." Während Conan, Ayumi, Mitsuhiko und Genta ihrer Anweisung Folge leisteten und aus dem Fenster des Klassenzimmers blickten, folgte Ai weiterhin dem Unterricht. Internationale Weihnachtsbräuche wollte Fräulein Kobayashi der 1B heute nahebringen und hatte dazu vor einigen Minuten einen Film eingelegt, danach das Klassenzimmer aber vorübergehend verlassen. Nicht wenige der Schüler hatten seitdem ihre Aufmerksamkeit nicht mehr auf den alten Fernseher vor den Sitzreihen gerichtet, sondern unterhielten sich angeregt mit ihren Nachbarn.
    Auch Genta gehörte zu denjenigen, die sich hatten ablenken lassen. Seine Augen richteten sich auf den Mann, der gerade vor dem Fenster vorbeigelaufen war und nun stehenblieb. Dieser war auffallend groß und hatte sich Schal und Mütze so weit ins Gesicht gezogen, dass man ihn kaum noch erkennen konnte. Genta sah genauer hin, versuchte sich zu erinnern, ob er den Mann schon einmal irgendwo gesehen hatte. Erst als Ai weiterredete, löste er seinen Blick wieder von dem Unbekannten.
    "Und überhaupt ist es eine Unsitte, immer alles auf später verschieben zu wollen, statt die Dinge sofort zu erledigen."
    "Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen", pflichtete ihr Genta bei.
    "Du kannst ja später noch nachkommen, wenn ihr früh genug fertig seid", ergänzte Ayumi.
    "Genau. Ai hat da schon Recht", meldete sich nun auch Mitsuhiko zu Wort. "Je früher du getan hast, was du tun musst, desto früher kannst du machen, was du willst. Wenn du das Notwendige gleich erledigst, hast du im Anschluss alle Freiheiten, die du nur haben kannst."
    Der Mann, der draußen vor dem Fenster stand, wühlte kurz in seiner Jackentasche und kramte ein Feuerzeug sowie eine Schachtel Zigaretten hervor. Auf dem Bildschirm des Fernsehers war unterdessen zu sehen, wie einige kleine Mädchen, die auf ihren Köpfen Kränze mit Kerzen trugen, das Luciafest feierten. "Das Notwendige sofort erledigen... später alle Freiheiten haben...", murmelte Conan, während er seinen Blick wandern ließ. Die Mädchen, die das Video zeigte, fingen an Lucialieder zu singen. Eines von ihnen schien den Kerzen, die auf seinem Kopf brannten, nicht so recht zu trauen und schaute immer wieder nervös nach oben. Weniger Angst vor Feuer hatte offensichtlich der Fremde vor dem Fenster und steckte sich seine Zigarette an.
    "Okay, ihr habt ja Recht." Conan gab sich geschlagen – scheinbar zumindest. In Wirklichkeit war es ihm aber ja gar nicht unrecht, Ran in die Stadt zu begleiten, statt mit seinen Grundschulfreunden spielen zu gehen. "Dafür komm ich morgen wieder mit euch mit."

    "So Kinder, das wars für heute." Fräulein Kobayashi betrat das Klassenzimmer, wirkte dabei aber seltsam gehetzt. "Packt eure Sachen zusammen, wir sehen uns dann morgen wieder." Mit einigen schnellen Schritten durchquerte sie den Raum, schob den Fernsehapparat in eine Ecke und verschwand so schnell, wie sie gekommen war.
    "Die hats heute aber eilig", merkte Genta an, während auch Conan das Klassenzimmer verließ.
    "Naja, hat sie nicht jetzt eine Sprechstunde mit den Eltern von irgendjemandem aus unserer Klasse?", erwiderte Mitsuhiko. "Da musste sie sicher noch das andere vorbereiten."
    "Also, ich habe gehört, dass die Klassenlehrerin aus der 1A kurzfristig krank geworden sein soll. Ich könnte mir vorstellen, dass sie immer wieder nebenan nach dem Rechten gesehen hat", widersprach Ayumi.
    "Wie dem auch sei, sie scheint heute jedenfalls ziemlich in Eile und vielleicht auch etwas zerstreut zu sein." Ai stand inzwischen vorne am Pult und hielt in den Händen, was sie dort gefunden hatte. "Jedenfalls hat sie die Videokassette hier liegen lassen."
    "Die sollten wir hier nicht einfach liegen lassen, die müssen wir Fräulein Kobayashi zurückbringen." Ayumi war schon auf dem Weg Richtung Flur, doch Genta wiegelte ab:
    "So schnell wie die abgedampft ist, finden wir die eh nicht mehr."
    "Das müsst ihr auch gar nicht. Der Film gehört ohnehin nicht Fräulein Kobayashi, sondern Ruri aus der 1A." Im Gegensatz zu den anderen hatte Ai aufgepasst, was die Lehrerin ihnen vorhin erzählt hatte.
    "Ist das nicht das Mädchen, dessen Vater aus Schweden stammt?"
    "Ja, deshalb hatte sie auch diesen Film zum Thema und war so freundlich, ihn uns auszuleihen", antwortete Ai auf Mitsuhikos Frage. "War durchaus eine interessante Dokumentation... auch wenn ich vermute, dass ihr nicht allzu viel davon mitbekommen habt." Ayumi und Mitsuhiko blickten leicht verlegen zu Boden. "Wenn ihr wollt, könnt ihr die Kassette also auch direkt Ruri geben. Ich muss jetzt jedenfalls auch los." Ai verabschiedete sich und Ayumi, Genta und Mitsuhiko waren nun die letzten im Klassenzimmer Verbliebenen.
    "Auf gehts", ergriff Letzterer die Initiative. "Dann fangen wir mal an, Ruri zu suchen."

    "Ich hab sie gestern gesehen", erzählte Ayumi den beiden anderen, während sie den Gang entlangliefen. "Sie trug ein wunderschönes, strahlend weißes Kleid. Das Kleid war ganz leicht und um die Taille hatte sie ein Band oder einen Gürtel, und der war ganz rot." Dabei strahlte sie fast so sehr, wie das Kleid, das sie soeben beschrieben hatte. "Sie sah wirklich toll aus!"
    Inzwischen waren die drei am Raum der 1A angekommen. "Ruri? Nein, die war heute nicht da", antwortete ihnen Ayano aus der 1A.
    "Aber sie wohnt doch im Howaito-Viertel, nicht wahr?"
    "Äh ja...", entgegnete ihnen das Mädchen aus der Parallelklasse zögernd. "3. Block."
    "Prima", freute sich Ayumi und bedankte sich bei Ayano. "Das liegt doch fast auf dem Weg", erklärte sie Genta und Mitsuhiko, die etwas fragend dreinschauten, auf dem Weg zum Ausgang. "Wir bringen ihr die Kassette einfach persönlich vorbei."
    Sie waren inzwischen nur noch etwas mehr als hundert Meter vom Schultor entfernt, als sie an zwei Erstkässlern vorbeikamen, die sich lautstark unterhielten. "Ganz kalt lag sie da auf dem kalten Steinboden", schilderte der eine. "Man hat ihr die Klinge einfach in den Hals gerammt und so war alles voll mit Blut. Sogar ihr Kleid war nicht mehr weiß, sondern zerfetzt und ganz rot... so rot wie das Band, das sie um den Bauch trug."
    "Ja", stimmte der andere mit ein. "Und irgendwo auf dem Boden rollten zwei Augäpfel zwischen den ganzen Blutlachen herum... die Augen, die hat man ihr nämlich einfach ausgestochen, nachdem sie sie umgebracht haben."
    "Quatsch", widersprach ihm der erste. "Erst haben sie ihr die Augen aus dem Gesicht gerissen und danach haben sie ihr den Hals aufgeschlitzt."
    Für Ayumi machte das aber keinen Unterschied. In dem Maße, wie sich das Kleid der Toten der Erzählung nach von Weiß zu Rot verfärbt hatte, wandelte sich jetzt die Farbe ihres Gesichts, allerdings in der umgekehrten Richtung: Ganz bleich war Ayumi geworden, sie ließ die Kassette fallen und stieß einen spitzen Schrei aus. Sogar Ai, die ein ganzes Stück weiter entfernt das Schulgelände bereits verlassen hatte, drehte sich aufgrund des Geräuschs kurz um, ging dann aber doch weiter.
    "Ruri...", flüsterte Ayumi leise, und man konnte unter ihren Augen noch die Spuren erkennen, die die inzwischen getrockneten Tränen in ihrem Gesicht hinterlassen hatten.
    "Jetzt mach dir mal keinen Kopf", versuchte Mitsuhiko sie aufzuheitern. "Es ist ja gar nicht gesagt, dass die beiden von Ruri gesprochen haben. Es ist ja nicht so, dass sie ihren Namen genannt hätten, oder so."
    "Aber das Kleid... und das rote Band... Das erklärt auch, warum sie heute nicht in der Schule gewesen ist."
    "Nun ja, wir sind ja gleich da. Dann erfahren wir, was da wirklich dran ist." In der Tat waren die Grundschüler nur noch eine Biegung von dem Haus entfernt, in dem Ruri anscheinend wohnte – beziehungsweise gewohnt hatte. Die drei bogen gerade um die letzte Straßenecke, als sie vor dem Haus einen recht großen Mann wahrnahmen, dessen Gesicht fast komplett durch Mantel, Schal und Mütze verdeckt war.
    "Das ist der Typ von vorhin", flüsterte Genta aufgeregt.
    Mitsuhiko schien wenig überzeugt. "Jetzt mal halblang, Genta. Das ist ein großer Mann mit Schal und Mütze, mehr nicht. Wir haben Winter, da laufen viele Leute so rum."
    "Jetzt schau doch mal genau hin", beharrte Genta, brach dann aber ab. Denn es gab nichts mehr, das Mitsuhiko hätte genauer anschauen können: Der beschalte Unbekannte war verschwunden.
    Nach einigen Augenblicken des Schweigens sprach schließlich Ayumi aus, was auch Genta vermutete: "Glaubt ihr, er ist ins Haus von Ruri gegangen?"
    "Jetzt überstürzt doch nichts, ihr beiden. Wie gesagt, das war vielleicht einfach nur ein harmloser Passant, nichts weiter. Und während wir uns unterhalten haben, ist er eben weitergegangen. Da ist doch nichts Verdächtiges dran."
    "Von wegen nichts Verdächtiges!" Genta kniete inzwischen an der Stelle, an welcher der Fremde zuvor gestanden hatte. "Wie erklärst du dann das hier?" Triumphierend hielt er einen Zigarettenstummel in die Höhe.
    "Äh... er hat halt geraucht und seine Zigarette danach einfach auf den Boden geschnippt, statt sie ordnungsmäßig zu entsorgen. Das gehört sich zwar nicht, aber das macht ihn ja nicht gleich zum Verbrecher, oder?"
    Genta schüttelte den Kopf. "Da ist doch was faul. Erst lungert der Typ bei uns an der Schule rum und jetzt auch noch vor Ruris Haus. Ich bin mir sicher, er ist der Täter, der Ruri umgebracht hat."
    "Wieso sollte man auch so vermummt rumlaufen, wenn man denn nichts zu verbergen hat?", stimmte ihm Ayumi zu.
    Mitsuhiko gab sich hingegen weiterhin skeptisch. "Naja, das stimmt zwar schon, aber wir wissen ja immer noch nicht, ob der Mann von vorhin und der von hier dieselbe Person waren. Raucher gibt es ja auch viele. Und wir haben ja nicht mal gesehen, ob der Mann hier gerade wirklich geraucht hat. Der Zigarettenstummel kann da ja auch schon seit Tagen gelegen haben. Und überhaupt ist ja nicht mal sicher, dass Ruri tot ist." Seine Erklärungen waren inzwischen jedoch eher halbherzig, auch für ihn ergaben die Ausführungen von Genta und Ayumi Sinn.
    Genta sicherte derweil das von ihm gefundene Beweisstück, indem er es in seine Jackentasche stopfte. "Dann müssen wir eben nachsehen gehen."
    "Und wie machen wir das?", hakte Ayumi nach.
    "Naja, wir könnten natürlich einfach klingeln und sagen, dass wir gekommen sind, um Ruri ihr Video zurückzugeben", schlug Mitsuhiko vor.
    Die drei schauten zuerst in Richtung Haustür und danach sich gegenseitig fragend an.
    "Wobei... wenn Ruri tatsächlich tot sein sollte, dann wäre das schon irgendwie... pietätlos", fügte Mitsuhiko an. "Wir können dann ja nicht einfach so nach Ruri fragen. Da müssen wir uns wohl etwas einfallen lassen."
    Genta war inzwischen eine schmale Treppe neben dem Haus aufgefallen, die zu einer Kellertür zu führen schien. "Kalt... das hat er gesagt, nicht wahr? Und wisst ihr, wo es kalt ist?"
    "Hm... hier draußen?" Ayumi zog sich ihre Wollmütze weiter ins Gesicht und schnürte ihren Schal enger.
    "Im Keller", klärte Mitsuhiko sie auf. "Der Junge hat erzählt, dass das tote Mädchen..." – "Ruri", ergänzte Genta – "... auf einem kalten Steinboden gelegen hat. Das mit dem Keller würde also schon Sinn ergeben. Aber du glaubst doch nicht ernsthaft, dass wir durch die Kellertür da reinkommen. Die ist doch sicher abgeschlossen."

    Genta drückte die Klinke nach unten und lehnte sich mit seinem Körper vorsichtig gegen die Tür, die unter seinem Gewicht langsam nach innen aufschwang. " Na siehste", grinste er.
    "Aber woher wusstest du das? Ich stell mir das ziemlich unsicher vor, wenn bei mir die Kellertür nicht abgesperrt wird."
    Genta zuckte mit den Schultern. "Hat bisher doch auch immer funktioniert. Wenn man irgendwo reinwill, dann steht schon immer irgendne Tür offen."
    "Und was machen wir jetzt?" Ayumi hatte den Keller als letztes betreten und schloss die Tür hinter sich wieder. Mit seiner Uhr leuchtete Mitsuhiko den Keller ab, aber das schwache Licht erleuchtete den riesig wirkenden Raum nur unwesentlich. Man konnte zumindest erkennen, dass der Keller als eine Art Abstellraum benutzt zu werden schien. Fast überall schien irgendetwas abgestellt zu sein, trotz seiner Größe gab es kaum ein freies Plätzchen. Auf die Geräte und Maschinen, die Kisten und das Gerümpel, das hier verstaut war, verschwendete Mitsuhiko seine Aufmerksamkeit allerdings nicht. Er ließ stattdessen den Lichtschein akribisch über den Boden wandern. Nach einer Weile schien er alles genau genug betrachtet zu haben und richtete sich wieder auf.
    "Nichts zu sehen. Nach der Beschreibung der beiden müsste das Blut ja in Strömen geflossen sein nach dem Stich in den Hals, aber nicht das geringste Anzeichen. Hier hat die Tat mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht stattgefunden."
    "Und wenn hier nur gut sauber gemacht worden ist?" Genta gab noch nicht auf.
    "Nach 'gut sauber' sieht das hier aber nicht gerade aus."
    "Ja", pflichtete Mitsuhiko Ayumi bei. "Wenn es hier zu solch einem Blutbad gekommen wäre, dann hätte man hier gründlich sauber machen müssen oder aber es wären noch Spuren zu sehen. Außerdem ist hier auch nirgends Platz dafür, dass jemand auf dem Boden hätte liegen können."
    "Hm...", Genta gab sich geschlagen. "Aber riecht ihr das? Das riecht doch nach Zigarettenrauch, oder?" Er kramte zum Vergleich den Zigarettenstummel von vorhin aus der Tasche und schnupperte mehrmals kräftig daran. "Dann ist der Typ von vorhin also doch hier drin!"
    "Für mich riecht das eher, als würde jemand Kuchen oder Plätzchen oder etwas in der Art backen." Das erste Mal seit Längerem huschte Ayumi wieder ein Lächeln übers Gesicht.
    "Ja, riecht höchstens etwas angebrannt", ergänzte Mitsuhiko. "Wir sollten vielleicht versuchen, nach oben zu kommen, um uns da weiter umzusehen. Aber passt auf, anscheinend ist ja jemand hier im Haus." Die drei bewegten sich in Richtung einer Tür, von der sie vermuteten, dass sie sie aus dem Keller und weiter ins Haus hinein führen würde. Da ertönte plötzlich ein deutlich vernehmbares Knacken. Noch weitaus lauter war allerdings, was diesem Geräusch folgte, nämlich ein kurzer, aber schriller Schrei. Mitsuhiko richtete das Licht auf den Ursprungsort des Lärms.
    "T-tut mir Leid", wisperte Ayumi und blickte auf die Walnuss, die sie soeben zertreten hatte. "I-ich dachte, es sei Ruris Auge gewesen."
    "Schon gut", beschwichtigte Mitsuhiko und schaltete sein Licht ab. Leider haben wir hier unten keine Möglichkeit, uns zu verstecken. Wir können höchstens hoffen, dass es hier so dunkel ist, dass uns keiner sieht. Ach ja, und Genta: Wenn man uns schon erwischt, dann pack bitte wenigstens die Zigarette weg, das macht sonst einen enorm schlechten Eindruck."
    Genta bemerkte erst jetzt, dass er den Stummel noch immer in der Hand hielt und sah sich hektisch um. Im Dunkel neben ihm erahnte er einen Tisch, auf dem eine Art Tuch lag. Hastig stopfte er den Kippenstummel hinein, knüllte das Tuch zusammen und warf es wieder zurück auf den Tisch. Von der anderen Seite der Tür drangen derweil langsam, aber sicher die Geräusche von Schritten in den Keller. Die drei Eindringlinge hielten die Luft an, aber eigentlich war für sie schon nichts mehr zu retten, standen sie doch ohne Versteck da. Mit einem lauten Quietschen öffnete sich die Tür und gab den Blick auf eine kleine Gestalt frei. "War ja klar", seufzte sie.
    Genta, Mitsuhiko, Ayumi und Ai liefen die Treppe nach oben.
    "Was machst du denn hier?"
    "Ich hab euch schon mal angekündigt. Es war ja keine große Überraschung, dass ihr hierher kommen werdet. Es wäre allerdings einfacher gewesen, wenn ihr einfach den Vordereingang genommen hättet..." Ai warf den anderen einen leicht vorwurfsvollen Blick zu.
    "Aber woher wusstest du..."
    "Naja, ich hab euch ja selbst vorgeschlagen, Ruri die Kassette zu bringen. Und nachdem ihr sie noch bei euch hattet, als ihr das Schulgelände verlassen hattet, war ziemlich offensichtlich, dass ihr bei Ruri daheim vorbeischauen würdet."
    "Und deshalb bist du dann hierher gekommen?", hakte Mitsuhiko nach.
    "Nicht ganz... Ihr habt vorhin im Unterricht nicht aufgepasst, oder? Ihr wisst also nicht, was für einen Hintergrund das Luciafest hat, oder?"
    Ayumi schüttelte den Kopf, Genta und Mitsuhiko verneinten ebenfalls.
    "Das Fest wird vor allem in Schweden gefeiert und geht auf die heilige Lucia von Syrakus zurück, die im 3. Jahrhundert in Italien lebte. Angeblich versorgte sie damals Christen heimlich mit Lebensmitteln, und um dafür beide Hände zu benutzen und trotzdem im Schutz der Dunkelheit und der Nacht operieren zu können, trug sie – so heißt es – ihre Lichtquelle in Form von Kerzen auf dem Kopf. Daher auch vermutlich die Kerzenkränze, die die Mädchen am Luciafest tragen. Außerdem tragen die ältesten Töchter der Familien dem Brauch nach an diesem Tag weiße Gewänder mit einem roten Band um die Taille. Das Grund dafür..." Ai stockte kurz. "... ist jetzt aber nicht ganz so wichtig."
    Die vier waren inzwischen in einem Kinderzimmer angekommen.
    "Wie ihr jedenfalls wisst, kommt Ruris Vater aus Schweden und Ruri ist ganz verrückt nach diesem Fest. Da sie das einzige Kind der Familie ist, ist sie zugleich auch die älteste Tochter und darf daher die Lucia sein. Und da sie so stolz darauf ist, hat sie ihr Kleid gestern in der Schule schon einmal vorgeführt. Zumindest dir dürfte das aufgefallen sein, Ayumi."
    Ayumi nickte.
    "Auch die historische Lucia wird oft in diesem Gewand dargestellt", erklärte Ai weiter. "Jedenfalls starb Lucia von Syrakus bereits im Alter von etwa 20 Jahren und rund um ihren Tod gibt es einige zumeist blutige Legenden. Angeblich wurde sie vor einem Gericht verurteilt, und als der Richter sie fortschaffen lassen wollte, habe man sie auch mit 1000 Männern und einem Gespann von Ochsen nicht von der Stelle bewegen können. Und letzten Endes hat man sie dann, so heißt es, einfach mit einem Schwertstich in den Hals getötet. Andere Quellen berichten hingegen davon, man habe ihr die Augen ausgestochen.
    Und das ist auch der Grund, warum ich hier bin. Im Gegensatz zu euch scheinen die beiden Jungen, an denen ihr vorhin vorbeikamt, nämlich den Film verfolgt zu haben. Auf jeden Fall hatten sie, als ich an ihnen vorbeigelaufen kam, ziemlichen Spaß daran, die blutigsten Stellen Revue passieren zu lassen."
    Genta, Mitsuhiko und Ayumi hörten ihr weiterhin gebannt zu.
    "Zuerst hab ich mir nichts weiter gedacht, aber eigentlich musste ich nur eins und eins zusammenzählen, um Ayumis Reaktion am Schultor richtig zu interpretieren. Naja, und ich kenn euch ja. War ja zu befürchten, was ihr unter der Annahme, dass die beiden nicht von der heiligen Lucia, sondern von Ruri geredet haben, womöglich anstellen könntet." Ai lächelte. "Jedenfalls bin ich also hierher und habe angekündigt, dass ihr bald kommen werdet, damit ihr Ruris Kassette zurückgeben könnt. Naja, und ich hab natürlich zum einen gehofft, dass ihr nicht wirklich hier heimlich einsteigen würdet, und zum anderen, dass ich euch notfalls noch rechtzeitig abfangen kann. Mehr oder weniger hat das ja geklappt."
    Unterdessen kam ein junges Mädchen ins Zimmer. "Ihr seid ja schon da? Und den Film habt ihr auch dabei!" Ruri schien sich über den Besuch zu freuen und begrüßte jeden der drei Neuankömmlinge überschwänglich.
    "Ja, ich hab die drei kommen sehen und sie schonmal in dein Zimmer gebracht", antwortete Ai mit einem gequälten Lächeln.
    "Toll!" Ruri strahlte immer noch bis über beide Ohren. "Wenn ihr wollt, können wir in die Küche gehen. "Die Luciakatzen sind gerade fertig geworden."
    "Ein Safrangebäck", erklärte Ai, noch bevor die anderen nachfragen konnten.
    "Ja... und schön, dass ihr mir den Film mitgebracht habt. Ich durfte heute leider nicht in die Schule, da ich mir gestern eine leichte Erkältung eingefangen habe, ich war da wohl etwas zu leicht angezogen. Aber jetzt gehts mir schon wieder viel besser!"
    "Naja, nicht übertreiben..." Die fünf Erstklässler waren inzwischen in der Küche angekommen, wo Ruris Mutter gerade die lussekatter aus dem Ofen holte. Du darfst jetzt kurz die Lucia spielen und danach gehts für dich heute früh ins Bett."
    "Okay, ich geh mein Kleid holen und zieh mich um." Ruri schien auf diesen Moment nur gewartet zu haben. "Und dann dürft ihr alle sehen, wie ich darin aussehe", rief sie noch in den Raum und war auch schon verschwunden.
    Ihre Mutter lächelte in Richtung ihrer Gäste: "Sie hat sich schon seit Wochen auf den Tag heute gefreut. Da war sie gestern vielleicht etwas übermütig. Ich hab ihr noch gesagt, sie soll ihren warmen Mantel überziehen."
    "Aber was hat es mit diesem Film auf sich, dass sie den unbedingt haben will?" Ayumi blickte Ruris Mutter fragend an.
    "Das liegt daran, dass wir ihr nur erlaubt haben, einen elektrischen Lichterkranz zu tragen. Ruri will aber unbedingt einen mit echten Kerzen haben, so wie sie die Kinder auf dem Video tragen. Wahrscheinlich hofft sie, dass sie uns damit umstimmen kann, wenn wir in der Dokumentation die Mädchen mit den traditionellen Kränzen sehen. Nun ja, wir haben uns den Film inzwischen ja sicher zwanzig Mal gesehen; ich denke nicht, dass wir uns da noch umstimmen lassen. Ihr wisst ja: Verbrennungsgefahr und so." Der Mann, der gerade die Küche betreten hatte und offensichtlich Ruris Vater war, schnappte sich eine Luciakatze und biss herzhaft hinein.
    "Probiert ruhig auch welche", bot nun Ruris Mutter die frisch gebackenen Safranstränge an. Die vier Besucher nahmen dankend an.
    "Irgendwie ist das ja ein schönes Fest", sprach Ruris Vater weiter, nachdem er zuende gekaut hatte. Aber letztlich ist das auch eine Heidenarbeit. Das ganze Backen und Dekorieren und Ruri hält mich da auch ganz schön in Trab. Heute hat sie mich extra zu ihr in die Schule geschickt, um ihre Videokassette zurückzuholen. Tja, den Aufwand hätte ich mir im Nachhinein auch sparen können. Da konnte ich ja noch nicht ahnen, dass wir sie direkt nach Hause geliefert bekommen." Er grinste Genta, Mitsuhiko und Ayumi an, die gerade damit beschäftigt waren, ihre Luciakatzen zu essen. Mit einem Mal kam er ihnen ziemlich groß vor. "Und außerdem musste ich auch Ruris Luciakleid nochmal frisch bügeln. Ich weiß nicht, was sie gestern damit gemacht hat, aber das war ja völlig zerknittert. Aber wie dem auch sei, andererseits fühle ich mich am Luciafest immer ein bisschen wie zu Hause in Schweden. Das ist doch auch etwas sehr Schönes. Wartet mal, irgendwo müsste ich hier noch ein paar Kostüme haben. Dich..." – er zeigte auf Mitsuhiko – "... könnte ich mir gut als Pfefferkuchenmännchen vorstellen. Und du würdest einen fantastischen Wicht abgeben." Genta wusste nicht, ob er das als Kompliment oder als Beleidigung auffassen sollte, entschied sich ob des begeisterten Gesichtsausdruckes von Ruris Vater allerdings für ersteres. "Und ihr beide könntet zwei Sternenknaben sein", wandte dieser sich nun an Ayumi und Ai. "Das ist zwar eigentlich keine Mädchenrolle, aber ihr könntet die sicher wunderbar ausfüllen. Ihr würdet natürlich auch tolle Lucias abgeben, aber wir haben nunmal nur ein Luciakleid und ich glaube nicht, dass Ruri das hergeben möchte. Oder wollt ihr lieber Kerzenmädchen sein?"
    "Nein danke, für mich bitte kein Kostüm." Ai lehnte freundlich aber bestimmt ab, Ayumi hingegen schien der Gedanke zu gefallen.
    "Dann also ein pepparkaksgubbar, ein tomtar, eine tämor. Einen Moment bitte, ich gehe kurz die Sachen holen."


    Irgendwie war das ganze doch zu einem guten Ende gekommen, freute sich Ai. Sie hatte die Aktion von Genta, Mitsuhiko und Ayumi in gewisser Weise noch ausbügeln können. Ruri freute sich, dass sie zusammen mit Freunden das Luciafest feiern konnte. Und Genta, Ayumi und Mitsuhiko hatten ihren Spaß dabei, sich gegenseitig in ihren Kostümen zu begutachten. Auch Ai musste schmunzeln, als sie die drei sah, und stellte sich gerade Conan als Pfefferkuchenmännchen vor.
    "Wo bleibt denn eigentlich Ruri?" Mitsuhiko schaute sich suchend um.
    "Ach, die braucht beim Umziehen wohl etwas länger als ihr", antwortete Ruris Vater. "Aber das Warten lohnt sich, wartets nur ab. Sie sieht wundervoll aus in ihrem strahlend weißen Kleid."
    Auch Genta war derweil voll und ganz zufrieden. Das lag natürlich an den frischen Luciakatzen, von denen auch die fünfte genauso gut schmeckte wie die anderen vier. Irgendetwas allerdings ging ihm noch durch den Kopf, er wusste lediglich nicht was. Genta ließ sich die Worte von Gentas Vater nochmal durch den Kopf gehen.
    Mich extra in die Schule geschickt... Videokassette holen... Nein, das war es nicht.
    Ruris Kleid nochmal frisch bügeln... völlig verknittert... Das etwa?
    Strahlend weißes Kleid...
    Strahlend weiß...
    Vor seinem inneren Auge erschien ein Bügelbrett, ein Bügeltisch, auf dem Ruris Luciakleid lag.

    "Nein", schüttelte er den Kopf und kratzte sich dabei verlegen an der Stirn. "Strahlend weiß wird es leider nicht sein..."
    ~In varietate concordia~

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  • Also, nachdem ich die Geschichte jetzt gelesen hab, auch an dich ein Kompliment. Es ist eine sehr schöne Geschichte, die auf die Detective Boys passt. Ich fand auch sehr gut, dass du das Luciafest durch Ai genau erklären lassen hast. Da hab ich gleich wieder was gelernt. In diesem Sinne danke^^
    Ruhe und Gelassenheit, dazu noch Sorgfalt. Alles Eigenschaften meines Helden Holmes.

  • Mir hat die Geschichte auch sehr gefallen :)
    Vor allem die Idee mit Genta, der das schöne Kleid "zerstört" hat, war ein gelungener Abschulss^^
    Never play with the feelings of others
    because you may win the game
    but the risk is that you will surely
    lose the person for a life time